InterviewMessen, Mängel ausgleichen, Beschwerden lindern

Wechseljahresbeschwerden lindern, Gefäßschutz bei Typ-2-Diabetes, Osteoporoseprävention: Das Potenzial der Nährstoff- und Hormontherapie wird viel zu wenig ausgeschöpft. Dr. Helena Orfanos-Boeckel erklärt, was möglich ist und wie es praktisch umgesetzt werden kann.

Verschiedenfarbige Kapseln, Supplemente
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Sie sind Internistin und Nephrologin. Warum haben Sie begonnen, sich dem Thema „Nährstoffe und Hormone“ zuzuwenden und in der Praxis zu einem Ihrer Schwerpunkte zu machen?

Das Thema Stoffwechsel und die Vorgehensweise von „messen-machen-messen-machen“ sind mir Ende der 1990er-Jahre in meiner Zeit in der nephrologischen Transplantationsambulanz begegnet. Wir haben dort die nierentransplantierten Patient*innen regelmäßig einbestellt, untersucht, Blut abgenommen. Und dann je nach Messergebnis mit Medikamenten versucht den Stoffwechsel optimal einzustellen, in erster Linie auf Immunsuppressiva, Antihypertensiva usw. Auch schon damals nutzten wir körpereigene Hormone und Nährstoffe.

Das Einstellen erfolgte nicht pauschal, sondern individuell nach deren Blutwerten. Es wurde mit Eisen und Erythropoietin (Epo) beispielsweise der Hb auf 11-12 g/dl eingestellt, oder das Parathormon sollte in die Norm sinken mit Vitamin D und Calcium.

Das Ziel war die transplantierte Niere zu beschützen und ihre Funktion im Patienten lebenslang zu erhalten. Je optimaler wir den Stoffwechsel der Menschen einstellten, je früher wir den minimalen Kreatinin-Anstieg bemerkten und behandelten, umso seltener kam es zu plötzlichem Organversagen, es ging ihnen besser und sie hatten seltener lebensbedrohliche Infekte.

Nach der Klinik war ich eher enttäuscht von der Schulmedizin, auch weil ich in der Klinik die Menschen oft viel zu spät in die Hände bekommen hatte. Da war schon so viel innen drin unwiderruflich kaputt. In der Praxis hoffte ich, den Menschen besser helfen zu können, wenn ich ihnen zu einem Zeitpunkt begegne, zu dem sie noch gesünder sind. Ich habe mir dafür viele alternative feinstoffliche Methoden angesehen, aber die Menschen wurden einfach weiter krank.

Irgendwann habe ich verstanden, dass Krankheit und Tod unvermeidlich sind, und es eben auch Pech und Schicksal gibt. Deswegen ist es umso wichtiger, die Gesundheit zu erhalten. Ja klar, gesund essen, Sport und guter Schlaf sind wichtig. Aber vielen organisch gesunden Frauen, die in ihren Vierzigern/Fünfzigern zu mir kamen, ging es trotzdem nicht gut. Sie erhielten Diagnosen wie Osteoporose, Arteriosklerose, waren autoimmun oder psychisch erkrankt.

Auf der Suche nach Gesundheit bin ich dann über viel „nephrologische“ Labordiagnostik in der Zelle und den Mitochondrien gelandet. Und damit sie gut funktionieren, braucht es eine exzellente zelluläre Nährstoffversorgung und eine gute hormonelle Regulation. Bei diesen Frauen fand ich dann in der Labordiagnostik oft ein Vollchaos, was mich selbst überrascht hat.

Warum reichen gesunde Ernährung und gesunder Lebensstil nicht immer aus?

Es sind 4 Dinge: Wir werden erstens alt und niemand beschützt uns vor den Folgen, die ein hohes Alter heute mit sich bringt. Bis zu einem Alter von 50, 60 Jahren kann der Körper noch vieles gut kompensieren. Mit über 80 ist das die große Ausnahme. Spätestens dann wird alles sichtbar und spürbar, was sich im Laufe des Lebens angesammelt hat, zusätzlich zur Alterung.

Zweitens hat die Umweltbelastung stark zugenommen. Unsere Körper sind belastet u.a. mit Schwermetallen, Pestiziden, Mikroplastik und Halogenen. Das war früher nicht so schlimm.

Drittens scheint in den Nahrungsmitteln auch nicht mehr das an Nährstoffen enthalten zu sein, was wir zum gesunden Leben brauchen. Viele Lebensmittel sind durch die Verarbeitung verändert worden und werden nicht gut vertragen.

Viertens ist unsere genetische Ausstattung individuell verschieden. Es gibt Menschen, die Stress und Umweltbelastungen gegenüber robust sind, andere sind empfindlicher. Manche haben epigenetisch dann Glück, andere nicht. Die innere Ausstattung ist  − anders als in der Dermatologie − von außen nicht so gut sichtbar wie auf der Haut. Sie muss indirekt über Blut, Speichel, Urin und Stuhl ausgemessen werden. Das zelluläre Funktionieren kann nur in Zahlen ausgedrückt werden. In der radiologischen Bildgebung ist die Zellfunktion nicht sichtbar, allerdings zeigen sich 10–30 Jahre später die Folgen der zellulären Störungen.

Das alles kann eine gesunde Lebensweise mit Sport, gesunder Ernährung und Entspannung nicht auf Dauer ausgleichen. Hier kann ergänzend eine individuelle Nährstoff- und Hormontherapie sehr gut helfen, die Stoffwechselfunktion zu stärken und robuster zu machen, sodass man sich besser fühlt und im weiteren Verlauf nicht immer kränker wird. Präventiv können krankhafte Folgen altersbedingter Prozesse wie chronische Entzündung, Atrophie, Knochendichteverlust und Gefäßverkalkungen vermieden oder hinausgezögert werden.

Die Bedeutung von Nährstoffen ist in der Medizin unbestritten. Was sind die Gründe, dass die Therapie mit Nährstoffen in den medizinischen Leitlinien kaum existiert?

Ich denke, aus mehreren Gründen: Im Medizinstudium lernen wir viel über die Biochemie und die lebenswichtige Bedeutung von Nährstoffen. Wir lernen, dass z.B. Vitamin D, Selen, B12 essenziell sind und extreme Mangelsituationen zu Krankheiten führen können. In der Therapie spielen sie dann aber kaum eine Rolle.

Wenn es darum geht, Symptome oder Krankheiten zu behandeln, werden die Nährstoffe übersprungen und direkt pharmakologische körperfremde Substanzen eingesetzt. Nur wenn die Krankheiten schwer und fortschritten sind, z.B. bei Dialysepatienten oder auf Intensivstation, wird mal hochdosiert der ein oder andere Nährstoff gegeben, meist intravenös.

In der Prävention werden Nährstoffe nur vereinzelt und wenn, dann nur pauschal eingesetzt. Und ich erlebe immer wieder, dass beim Thema Nährstoffmangel therapeutisch immer nur auf die Ernährung verwiesen wird, als sei das relevante Auffüllen von Nährstoffen mit der heutigen Nahrung so einfach. Das ist ja eben die Erfahrung, dass das nicht funktioniert.

Hinzu kommt, dass die DGE Mindestmengen festgelegt hat, die wir benötigen, um nicht zu sterben. Werden sie überschritten, besteht offenbar die Befürchtung, dass es entweder schadet oder nichts bringt. Ein Grund für diese Gemengelage ist sicher auch, dass Studien dazu oft zu wenig Aussagekraft haben.

Warum haben Studien zu wenig Aussagekraft?

Die Studienteilnehmer*innen werden vor Beginn nicht auf ihren Bedarf hin ausgemessen. Jeder bekommt die gleiche, meist zu niedrige Dosis eines einzelnen Nährstoffs. Man muss das, was man mit den Nährstoffen erreichen will, im Blut mit einer wirksamen Dosis in Bezug zur Schulmedizin setzen, das wird aber fast nie gemacht.

Dann trägt sicher auch die Berichterstattung in den Medien zu noch mehr Verunsicherung bei. Es wird sehr einseitig nur über das Negative berichtet. Wenn jemand ohne ärztliche Beratung und Laborkontrolle täglich 150.000 IE Vitamin D eingenommen hat und dann lebensbedrohliche Probleme aufgetreten sind, wird getitelt „Vitamin D schadet“. Es wird aber nicht genauer spezifiziert, welche Therapien gemacht wurden und was genau geschadet hat. Meist war das, was geschadet hat, die falsche Handlung eines Menschen und nicht das Vitamin oder der Mineralstoff selbst.

Aber gerade für Vitamin D ist in Studien belegt, wie sinnvoll und wichtig es ist.

Trotzdem ist die individuelle Vitamin-D-Therapie nicht in medizinischen Leitlinien verankert. Und weil das System keine Notwendigkeit sieht, dass sich die Ärzteschaft um eine optimale Vitamin-D-Versorgung der Bevölkerung kümmert, macht auch die Messung in den Praxen keinen Sinn. Sie würde zwar bezahlt werden, aber wenn sich daraus keine therapeutische Konsequenz ergibt, macht kein Arzt eine sinnlose Labordiagnostik. Hinzu kommt, das das etwas Lebenslanges ist, um das man sich kümmern müsste.

Helena Orfanos-Boeckel ist ganzheitliche Ärztin für Innere Medizin und Expertin auf dem Gebiet der Nährstoffe und körpereigenen Hormone. Sie absolvierte ihre Facharztausbildung zur Internistin mit Schwerpunkt Nephrologie an der Freien Universität Berlin (heute Charité Berlin). Seit 2002 ist sie in eigener Praxis für ganzheitliche Innere Medizin, Stoffwechsel und Prävention in Berlin-Charlottenburg niedergelassen. Sie verbindet die klassische internistische Medizin u.a. mit der hormonellen, orthomolekularen und mitochondrialen Medizin.

Helena Orfanos-Boeckel ist Pionierin einer neuen Medizin – der Nährstoff- und Hormonmedizin. Bei dieser werden Nährstoffe und körpereigene Hormone anhand einer umfassenden, individuellen Labordiagnostik kurativ und präventiv eingesetzt.

Stichwort Labordiagnostik: Wann und wie oft messen Sie bei Ihren Patient*innen?

Die Labordiagnostik bildet die Basis von fast allen internistischen Stoffwechselerkrankungen. Es ist in der Inneren Medizin normal, die Intensität einer Behandlung von Diabetes mellitus, Hypercholesterinämie, Niereninsuffizienz und Osteoporose an Blutwerten auszurichten. Man möchte ein Zahlenziel erreichen, das statistisch mit höherer Wahrscheinlichkeit mit der Abwesenheit von Krankheitsfolgen einher geht.

Das Gleiche gilt auch für die Nährstoff- und Hormontherapie. Am Anfang jeder Behandlung steht eine große Blutuntersuchung mit gut und gern 15 bis 20 Röhrchen. Hier wird je nach Fragestellung die fachärztliche internistische und hormonelle Labordiagnostik mit orthomolekularer Nährstoffdiagnostik und vielen funktionellen Werten kombiniert. Ggf. ergänze ich das Ganze durch genetische Untersuchungen.

Die zweite und dritte Laborkontrolle erfolgt i.d.R. nach 3−6 Monaten. Die meisten kommen dann 1−2-mal im Jahr zur Verlaufskontrolle, um die Therapie immer wieder neu an das, was im Leben so passiert, anzupassen. Ziel einer kurativen und vor allem präventiven Nährstoff- und Hormontherapie ist, dass Schlüsselwerte optimiert werden. Das gelingt am besten durch das Anheben der Blutspiegel von niedrigen Gesundmach- (viele Nährstoffe und Hormone) und niedrigen Schlüsselwerten (einzelne lebenswichtige Hormone, Mineralien und Stoffwechselparameter). Dadurch sinken dann die Werte, die für Krankheiten stehen und der Stoffwechsel wird gesünder.

Haben Sie ein Beispiel?

Zum Beispiel der Eisenwert. Möchte eine Frau viel Sport machen, streben wir beim Schlüsselwert Ferritin (Eisenspeicher) einen Zielwert zwischen mindestens 70, besser 100−150 ng/ml an. Bei einem Mann kann das Ferritin auch bei 300 ng/ml liegen. Liegt der Wert bei Frauen nur bei 10 oder 30 ng/ml besteht zwar keine gesundheitliche Gefahr. Aber wenn sie wach sein, in der Schule oder im Studium Leistung bringen und im Wettkampf gewinnen will, stört so ein schlappes Ferritin. Außerdem sind die Haare dünn und die Schilddrüse arbeitet schlechter. Das ist auch von Bedeutung, wenn sie einen Kinderwunsch hat und eine angenehme Schwangerschaft erleben möchte.

Welche Patient*innen kommen zu Ihnen in die Praxis?

Das ist sehr unterschiedlich. Manche möchten wissen, wo sie stehen, um lange gesund zu bleiben. Andere kommen nach einer ernsteren Erkrankung und möchten etwas für ihre Gesundheit tun und haben Angst, etwas falsch zu machen.

Aber die meisten sind organisch gesund, leben gesund und haben trotzdem funktionelle Symptome. Meist bestehen diese gesundheitlichen Probleme schon länger und mit klassischer Schulmedizin konnte keine Lösung gefunden werden. Viele sind wirklich verzweifelt, weil die Lebensqualität sehr eingeschränkt ist.

Bevor Sie substituieren, gibt es Dinge zu beachten, damit die Nährstoffe auch vom Körper gut aufgenommen werden?

Darüber wird sich oft zu viel gesorgt, etwa, dass der Darm die Nährstoffe nicht gut aufnimmt. Im Gegenteil ist der Fall: Die Nährstofftherapie kann einem gereizten oder empfindlichen Darm sehr gut helfen sich zu beruhigen. Die Patient*innen nur müssen schlucken können und der Magen muss mitmachen. Alles, was vertragen wird, ist erstmal in Ordnung.

Das Wichtigste für den Therapierfolg ist, dass die Menschen mitmachen und den teilweise sehr anspruchsvollen Therapieplan auch umsetzen. Dafür muss die Nährstoff- und Hormontherapie in den Alltag der Menschen integriert werden. Es gibt nur ganz wenige Ausschlusskriterien für eine orale Therapie, z.B. eine Ösophagusstenose, eine schwere Gastritis, wenn jemandem schnell übel wird oder Widerstände gegen das Schlucken bestehen. Dann braucht es andere Vorgehensweisen. Nach dem Machen ist das Zweitwichtigste die richtige und wirksame Dosis, und die findet man nur über das Labor heraus. Deswegen messen-machen-messen-machen.

Reichen die günstigen Nahrungsergänzungsmittel aus der Drogerie aus oder sollte man besser auf die deutlich teureren Präparate aus der Apotheke zurückgreifen?

Die Qualität der Nährstoffpräparate ist mittlerweile sowohl in der Drogerie als auch in der Apotheke oder in Online-Shops in Deutschland sehr gut. Wichtig ist, dass die Inhaltsstoffe auf den Produkten genau deklariert sind. Es muss erkennbar sein, wieviel Milligramm oder Mikrogramm in der jeweiligen Kapsel oder Tablette enthalten sind. Noch wichtiger ist, dass die Patient*innen ihren täglichen Bedarf kennen und über biochemische Aspekte Bescheid wissen, z.B. in welcher Form ein Nährstoff im Körper am besten wirkt und wie viel sie davon täglich einnehmen müssen, um ihre Tagesdosis zu erreichen.

Machen wir es konkret. Was würden Sie bei einer Frau in den Wechseljahren, die schlecht schläft, einsetzen?

Die Basis für diese Frau ist eine Hormonersatztherapie mit den körpereigenen Hormonen Progesteron oral zur Nacht und transdermal Estradiol. Ergänzend dazu kommen Nährstoffe infrage, die u.a. als Co-Faktoren für die körpereigene Melatoninproduktion notwendig sind. Dazu gehören Magnesium, B-Vitamine, v.a. B6, Zink und 5-HTP.

Auf welche Nährstoffe und Hormone sollte man bei einem 50-jährigen Mann mit Typ-2-Diabetes achten?

Dieser Mann hat mit hoher Wahrscheinlichkeit ein metabolisches Syndrom. An erster Stelle sollten für ihn Sport, eine gesunde Ernährung und eine gute diabetologische pharmakologische Einstellung und Betreuung stehen.

Bei der Nährstofftherapie ist für den Zuckerstoffwechsel eine gute Versorgung mit Zink und Chrom wichtig. Im Vordergrund stehen bei diesem Patienten der Gefäßschutz durch antiinflammatorische Nährstoffe wie Omega-3-Fettsäuren, Q10, Vitamin C und das Senken eines erhöhten Homocysteinwertes durch B-Vitamine. Um das Immunsystem zu unterstützen, sollte er einen gut eingestellten Vitamin-D- und Calciumstoffwechsel haben. Bei den Hormonen kann Progesteron oral zur Nacht eine Unterstützung sein.

Welche Bedeutung haben Hormone im Zusammenspiel mit Nährstoffen?

Hormone sind die Botenstoffe, die eine Stoffwirkung initiieren. Sie steuern und regulieren alle biochemischen Prozesse, die im Organismus ablaufen. Nährstoffe liefern die Energie für diese Prozessumsetzung in den Zellen. Schwangerschaft, Wachstum, Blutzuckerspiegel, Stressempfinden – kurz gesagt, ohne Hormone gäbe es keine Menschen. Nährstoffe und Hormone sind nicht voneinander zu trennen.

Leider wird die Therapie in unserem Gesundheitssystem aber getrennt behandelt: Hormone unterliegen der ärztlichen Rezeptpflicht, Nährstoffe nicht.

Warum ist das Thema Hormone oft negativ besetzt?

Es gibt zu diesem Thema einige Missverständnisse. Häufig werden körpereigene Hormone und körperfremde pharmakologische Derivate gleichermaßen als Hormone bezeichnet. Auch wir als Ärzte tragen mit unserer Sprache dazu bei. Das stiftet Verwirrung. Medikamente, die den Hormonhaushalt unterdrücken, werden fälschlicherweise als Hormone bezeichnet. Da müssen wir besser differenzieren: Substanzen wie das antiöstrogene Tamoxifen, das verhütende Levonorgestrel oder das immunsuppressive Prednisolon sind keine körpereigenen Hormone, sondern starke hormonunterdrückende Medikamente. Insulin, Progesteron, Estradiol und L-Thyroxin sind hingegen Hormone, die unseren körpereigenen Molekülen entsprechen.

Ein Hauptgrund für den schlechten Ruf der Hormone ist die WHI-Studie mit postmenopausalen Frauen aus dem Jahr 2002. Damals kam fälschlicherweise die Nachricht heraus, dass „Hormone“ Brustkrebs und Schlaganfälle bei diesen Frauen begünstigen. Seitdem ist allein das Wort „Hormon“ bei Patientinnen oft angstbesetzt.

Die Frauen der WHI-Studie haben damals aber vor allem körperfremde, heute zum Teil schon verbotene Gestagene eingenommen, die eben starke Nebenwirkungen haben können. Und genau das muss man sprachlich besser differenzieren. Körpereigene Hormone haben keine Nebenwirkungen, hier ist alles „nur“ eine Frage der Dosis.

Wie unterscheidet sich das Vorgehen bei einer Hormontherapie von der Nährstofftherapie bei Ihnen in der Praxis?

Bei der Nährstoff- und Hormontherapie ist das gemeinsame Ziel mit der richtigen wirksamen Dosis bestimmte – für Krankheit stehende − Laborwerte auf gesunde Werte einzustellen. Bei den Nährstoffen kann ich − ausgehend vom Messwert − sehr gut im Vorfeld der Therapie die wirksame Dosis abschätzen, die es braucht, um therapeutische Nährstoff-Zielwerte zu erreichen.

Bei den Hormonen ist das etwas anders. Hier dient die Diagnostik in erster Linie als Orientierung für die qualitative Ausrichtung der Therapie. Man sieht, was fehlt und was zu viel da ist, aber nicht, welche Dosis genau erforderlich ist. Das muss man über das Befinden des Menschen unter der Therapie herausfinden. Die Hormon-Wohlfühl-Dosierung kann von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sein. Je nachdem, wie er oder sie genetisch und epigenetisch bedingt die Hormone im Körper weiter verstoffwechselt und wie die Hormonrezeptoren reagieren.

Welches Potenzial hätte ein osteologisches Screening bei Frauen in den Wechseljahren und ggf. eine Hormongabe, um Osteoporose vorzubeugen?

Hier gibt es eine Riesenchance für die Prävention. Männer und Frauen bauen bis etwa zum 30. Lebensjahr Knochen auf. Männer besser, weil sie mehr Testosteron und Muskeln haben und nicht mit körperfremden antiandrogenen Gestagenen verhüten müssen.

Ab dem 35. Lebensjahr verliert der Knochen jährlich 1% seiner Knochendichte. Aber, nach der letzten Blutung verlieren Frauen in den nächsten 10 Jahren statt der üblichen 10%  sogar 30% ihrer Knochendichte. Das bedeutet, dass eine etwa 55- bis 60-jährige postmenopausale Frau ggf. vor dem Alter schon sehr schlecht dastehen kann. Ich denke, wenn man Frauen frühzeitig, ab der letzten Blutung oder mit Ende 40, einer Knochendichtemessung zuführen würde, könnte man besser einschätzen, ob es sich die Frau leisten kann, die Hormonersatztherapie nicht zu nutzen. Bei schon vorhandener Osteopenie hat sie mit Hormonersatztherapie mehr Chancen, dass eine schwere Osteoporose mit pathologischen Frakturen zu Lebzeiten gar nicht erst entsteht.

Wie groß wäre das Zeitfenster für eine Osteoproseprävention?

Von einer Osteopenie bis zur osteoporotischen Spontanfraktur im Alter vergehen gut 20 bis 30 Jahre. In diesem Zeitraum könnte man sehr viel über Sport und Ernährung hinaus tun. In meiner Praxis habe ich die Erfahrung gemacht, dass es möglich ist, die Knochendichte zu verbessern – mit Krafttraining und individueller Hormon- und Nährstofftherapie. Würde man frühzeitig diagnostizieren und nach Labor individuell wirksam dosiert behandeln – mit transdermal Estradiol, Progesteron, Vitamin D, Calcium, Magnesium, Bor und Vitamin K2 – ließen sich viele Osteoporosefrakturen ganz vermeiden.

Meine Beobachtung ist auch: Wenn man sich aktiv um den Knochenstoffwechsel kümmert, reduziert sich im Alter das Risiko für Arteriosklerose. Ohne schwere Osteoporose und ohne schwere Arteriosklerose haben es Herz, Nieren und auch das Gehirn leichter, gesund alt zu werden. Eine aktive Osteoporose ist ein wirklich dramatischer Auflösungsprozess, der in seinem Verlauf auch an anderen Stellen schwere krankmachende Folgen zeigt.

Wenn Sie ein Fazit ziehen: Wo liegt das große Potenzial einer Nährstoff- und Hormontherapie?

Das große Potenzial liegt in der Prävention. Gezielte Nährstoff- und Hormontherapie bieten die Möglichkeit, altersbedingte Krankheiten und deren Folgen zu vermeiden.

Und wir können das heutige Befinden verbessern. Ich erlebe oft, dass die Menschen unter gut eingestellter Nährstoff- und Hormonversorgung fitter sind, robuster mit Stress umgehen, nicht so oft krank sind. Das Potenzial ist so groß wie das von Sport, gesunder Ernährung und Bildung. Und der Vorteil ist, man kann für jede und jeden individuell ausrechnen, was Sinn macht und hilft.

Haben Sie einen Tipp für Ihre Kolleg*innen, die sich noch nicht damit auskennen: Wie könnte man starten?

Labordiagnostik machen, neugierig sein, die Patient*innen und ihre Beschwerden ernst nehmen. Messen, niedrige gesundheitsförderliche Werte und Schlüsselwerte einstellen und anheben. In meinen beiden Büchern habe ich die präventiven und kurativen Zusammenhänge und das Vorgehen beschrieben.

Und wo finden Interessierte eine erste Anlaufstelle, wenn Sie sich fortbilden möchten in diesem Bereich?

Eine erste Anlaufstelle ist z.B. die Deutsche Gesellschaft für Prävention und Anti-Aging Medizin e.V. (www.gsaam.de).

Das Interview führte Anke Niklas.