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Schmerzsyndrome des Bewegungsapparats mit oft deutlicher Beeinträchtigung der Lebensqualität gehören zu den häufigsten Erkrankungen. Problematisch sind u.a. das Nebenwirkungs- und Interaktionspotenzial einer in vielen Fällen erforderlichen Polymedikation.
Die konventionelle medizinische Behandlung stellt häufig ein therapeutisches Problem dar. So versterben z.B. in den USA laut einer Studie von 1998 jährlich über 100.000 Menschen an den Nebenwirkungen von Medikamenten. Davon versterben über 16.000 Menschen an den Nebenwirkungen nicht steroidaler Antirheumatika, die immer noch ihren festen Platz in der Therapie bei muskuloskelettalen Schmerzen einnehmen [1].
In dieser Situation sind erweiterte Behandlungsmöglichkeiten von besonderer Bedeutung.
Ausleitende Verfahren
Behandlungen mit Blutegeln und Cantharidenpflaster zählen zu den ausleitenden Verfahren. Diese Therapien können eine sinnvolle komplementärmedizinische Option bei der Behandlung chronischer Krankheiten sein. Sie sind Teil der jahrtausendealten traditionellen europäischen Medizin. Zu den ausleitenden Verfahren gehören auch der Aderlass und das Schröpfen sowie prinzipiell alle Maßnahmen, die zu einer Ausleitung über Haut, Lunge, Nieren oder den Verdauungstrakt führen.
Historische Grundlage der ausleitenden Verfahren ist die sog. „Säftelehre“. Innere Krankheiten kommen demnach aufgrund von Ungleichgewichten, Verunreinigungen oder Vergiftung durch die 4 Säfte des menschlichen Körpers zustande: Blut, Schleim, schwarze sowie gelbe Galle (Humoralmedizin). Das Körperinnere (und damit die Säfte) würden über Ausscheidungen und Ausdünstungen mit der Umwelt im Gleichgewicht stehen. Vor allem Saftüberschüsse seien für Beschwerden verantwortlich, daher war es Aufgabe des Arztes, diese vermuteten Überschüsse auszuleiten.
Die Humoralmedizin zielt heutzutage v.a. auf die Ausleitung von Stoffwechselendprodukten aus dem interstitiellen Raum als zentrale Brücke zwischen Gewebe, Blutbahn und Lymphsystem ab (Grundsystem nach Pischinger). Neben dem tradierten Erfahrungsschatz tragen die zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu bei, dass die sog. ausleitenden Verfahren „evidenzbasiert“ in individuelle Behandlungskonzepte integriert werden können.
Blutegeltherapie
Die Blutegeltherapie gehört zu den ältesten Heilmethoden überhaupt – erstmals wurde sie 200 v. Chr. von Nikandros von Kolophon beschrieben. 1884 wurde die Existenz einer blutgerinnungshemmenden Substanz im Mund und Schlund des Blutegels erkannt. Um 1903/1904, nach weiterer chemischer Isolierung, wurde sie schließlich als Hirudin bezeichnet und stellt bis heute die Leitsubstanz dieses Medizinprodukts dar. Die besondere Wirkung der Blutegel ließ sich nun als chemischer Prozess verstehen, was die Blutegeltherapie dem zeitgenössischen medizinisch-wissenschaftlichen Verständnis näherbrachte.
Schmerzlindernde Effekte
Die Blutegeltherapie lässt durch vielbeachtete Erfolge im Rahmen eines naturheilkundlich-schmerztherapeutischen Ansatzes aufhorchen. Die Basis bilden Ergebnisse von mehreren wissenschaftlichen Studien aus universitären naturheilkundlichen Abteilungen zur Wirksamkeit der Blutegeltherapie bei symptomatischer Arthrose.
Bei Gonarthrose konnte z.B. gezeigt werden, dass sich durchschnittlich 3 Tage nach einer einmaligen Therapie mit 4–6 Blutegeln bei 80 % aller Patienten eine Schmerzreduktion um durchschnittlich 60 % einstellt. Der Effekt geht mit einer Schmerzlinderung über mindestens 3 Monate bei 70 % und einem reduzierten Schmerzmittelbedarf noch nach 10 Monaten bei 45 % der Patienten einher [2]. Damit übersteigt die Wirkung der Blutegel die Wirksamkeit aller bisher bekannten Therapien bei dieser Indikation bei weitem, bei gleichzeitig geringem Nebenwirkungsprofil unter Beachtung der Gegenanzeigen.
Bezug und Haltung der Blutegel
Blutegel können heute aus Zuchtanstalten als Medizinprodukt mit Chargennummer und Beipackzettel bezogen werden. Von den etwa 600 Blutegelarten werden weltweit ca. 15 in der Heilkunde verwendet. Als medizinische Blutegel werden vor allem Hirudo medicinalis und Hirudo verbana verwendet. Blutegel sind „nüchtern“ ca. 0,5–5 g schwer und 2–4 cm lang – je nach Unterart bestehen also mitunter recht deutliche Größenunterschiede. Nach Lieferung können sie in einem Gefäß mit verschließbarem Deckel (Cave: Blutegel nutzen auch den kleinsten Schlitz zur „Flucht“) und etwa zur Hälfte gefüllt mit destilliertem Wasser plus 0,5 g Salz pro Liter oder mit kohlesäurefreiem Mineralwasser, abgedunkelt und kühl (5–18 °C), etwa 1 Woche aufbewahrt werden.
Etwa alle 2 Tage bzw. bei Trübung sollte das Wasser ausgetauscht werden. Das Abstreifen der Schleimhülle alle 2–3 Tage ist normal – hierzu empfiehlt es sich, scharfkantige Steine in das Gefäß zu legen.
Hygienische Aspekte
Dank einer 8-monatigen fütterungsfreien Phase vor Auslieferung ist nach aktueller Studienlage eine virale Infektionsübertragung durch die Blutegelbehandlung nahezu ausgeschlossen. Die Keimzahl auf der Blutegeloberfläche wird durch die korrekte Lagerung und durch kurzes Abspülen der vitalen und äußerlich unversehrt wirkenden Blutegel mit lauwarmem Wasser unmittelbar vor dem Ansetzen weitestgehend reduziert.
Die Darmflora der Blutegel besteht immer nur aus Aeromonaden, antibiotisch sollten bei Risikopatienten (z.B. in der Transplantationschirurgie) prophylaktisch bzw. bei den sehr selten auftretenden Wundinfektionen sicher wirksame Cephalosporinen der 3. Generation bzw. Gyrasehemmer eingesetzt werden.
Manipulationen, die ein Erbrechen des saugenden Blutegels zur Folge haben könnten, sind zu vermeiden, z.B. ein „gewaltsames“ Lösen des Blutegels. Dieser verfügt über 3 Kauleisten mit scharfen Kalkzähnchen. Sollte ein vorzeitiger Abbruch der Egelbehandlung unbedingt erforderlich sein, ist der Blutegel durch behutsames Lösen der Saugköpfe mit einem sterilen Spatel zu entfernen.
Ablauf der Blutegel-Therapie
Ein Blutegel saugt bis zu 15 ml Blut ab, hinzu kommt eine (gewünschte) Nachblutung von 20–40 ml Blut pro Bissstelle (plus Lymphflüssigkeit). Daraus resultiert ein lokaler protrahierter Aderlass mit Absenkung des Hämatokrits und abnehmender Viskosität des Blutes durch den nachfolgenden intravasalen Flüssigkeitsersatz. Eine Verbesserung der Blutrheologie und des Lymphstroms ist die Folge.
Der Speichel (Saliva) der Blutegel enthält wiederum mindestens 30 Enzyme, von denen bisher erst weniger als die Hälfte in Struktur und Wirkung aufgeklärt sind. Sie wirken nicht nur gerinnungshemmend (Nachblutung für 12–24 h!), sondern auch antientzündlich sowie schmerzstillend. Sie gelangen dank vorhandener Proteasen auch tief in das Gewebe, mutmaßlich sogar bis in das Gelenkinnere.
Der Saugakt dauert ca. 30–90 Minuten, nach 1–3 Stunden Nachbluten wird ein Verband angelegt, nach ca. 5–8 Tagen ist eine erneute Blutegelbehandlung an der gleichen Stelle möglich. Je nach Indikation kommen 2–8 Blutegel pro Anwendung zum Einsatz.
Hinweise zur Blutegel-Therapie
Im Vorfeld empfiehlt sich eine Hb-Bestimmung, da eine intensive Blutegelbehandlung durchaus Hb-relevant sein kann. Der Blutegel darf nur in Arealen mit intakter Haut zum Einsatz kommen. Ein Anritzen der Haut im Behandlungsareal erhöht die Bisswahrscheinlichkeit, dieser kann für wenige Minuten durchaus als schmerzhaft empfunden werden, vergleichbar mit einem Bienenstich.
Mithilfe eines umgestülpten Bechers oder einer abgeschnittenen Plastikspritze kann der Biss an der gewünschten Stelle sichergestellt und eine Abwanderung des Egels verhindert werden (Cave: Körperöffnungen).
Da die Blutegel sehr empfindlich auf Duftstoffe reagieren, sollte das ggf. rasierte Ansatzareal im Vorfeld nur mit Wasser und Kernseife gereinigt werden. Nikotin, ätherische Öle, aber auch grelles Licht, Gewitter oder selbst ein nervöser Behandler können dazu führen, dass die sensiblen Tiere nur sehr zögerlich beißen, wenn überhaupt.
Die „gesättigten“ Blutegel, die ihr Volumen durch den Saugakt gut und gerne verdreifachen, lassen freiwillig los, sind träge und würden in freier Wildbahn z.B. am Grund eines Teiches ihre Mahlzeit über mehrere Monate verdauen. Nach der therapeutischen Anwendung können sie daher völlig problemlos wieder „eingesammelt“ werden.
Nachsorge
Die Bisswunden werden mit sterilen Kompressen abgedeckt, wegen der Nachblutungszeit von 12–24 Stunden muss dann noch ein genügend saugfähiger Verband angelegt werden. Im Anschluss sollten die mercedessternförmigen Wunden für mindestens weitere 48 Stunden mit Pflastern abdecken werden – erst danach sind Duschen, Baden bzw. Waschen der Bissstellen wieder möglich.
Bei Behandlung an den Extremitäten sollten diese für 1–2 Tage nach dem Biss eher hochgelagert werden, um einem möglichen stärkeren Anschwellen des Behandlungsareals vorzubeugen. Um nachträgliche Wundinfektionen zu verhindern, ist auch bei (durchaus häufiger auftretendem) starkem Juckreiz ein Aufkratzen der Wunde unbedingt zu unterlassen. Gegebenenfalls können juckreizstillende Salben oder Gels aufgetragen und/oder die Wunden noch etwas länger mit einem Pflaster geschützt werden.
Entsorgung der Blutegel
Die Blutegel können übrigens über 20 Jahre alt werden, sie dürfen aber logischerweise kein 2. Mal eingesetzt werden. Entweder müssen sie getötet und entsorgt oder mittels adäquater Versandmethode an den Hersteller zurückgeschickt werden, wo sie in einem Rentnerteich den Rest ihres Lebens verbringen dürfen. Ein Aussetzen in der Natur ist aus Infektionsschutzgründen nicht erlaubt. Die Tötung erfolgt durch Einfrieren bei –18°C (über mindestens 12 Stunden) oder mit hochprozentigem Alkohol (Spiritus).
Gegenanzeigen der Blutegeltherapie
Kontraindikationen sind eine stärkere Blutverdünnung als ASS 100 mg 1-mal tgl. oder bekannte hämorrhagische Diathesen. Das gilt auch für Magenschleimhautentzündungen, Magengeschwüre und ganz generell ein erhöhtes Risiko für eine Blutungskomplikation, da es im Rahmen der lokalen Blutegelbehandlung durchaus zu systemisch relevanten blutverdünnenden Effekten kommen kann.
Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass auch hochdosierte Enzym- oder Fischölpräparate sowie Vitamin-C-Infusionen mit gewissen blutverdünnenden Effekten einhergehen können.
Als Kontraindikationen sind zudem eine relevante Immunsuppression mit erhöhter Gefahr für Wundinfektionen, eine bekannte Hirudinallergie oder eine sehr ausgeprägte allergische Diathese (v.a. auf Eiweiße), eine bekanntermaßen überschießende Narbenbildung sowie mögliche Ursachen für Wundheilungsstörungen im Behandlungsareal, z.B. bei Diabetes mellitus oder pAVK, zu erwähnen.
Generell muss darauf hingewiesen werden, dass auch bei komplikationslosem Verlauf ganz kleine, aber sichtbare Narben zurückbleiben können.
Nebenwirkungen
Mögliche Nebenwirkungen sind häufig (> 10 %) ein Anschwellen der Ränder der dreizackigen Wunde für 12–48 Stunden, verbunden mit lokalem Spannungsgefühl, rotviolette, später gelbliche Verfärbungen der Bissränder für ca. 2 Wochen, zudem passagere regionale Lymphknotenschwellungen.
Immerhin noch häufig (> 1 %) ist mit stärkeren Nachblutungen mit begleitendem Hb-Abfall zu rechnen, lokalisierten Entzündungen, lokal begrenzten allergischen Symptomen und/oder mehrtägigem Anschwellen des Behandlungsareals bei Ansetzen an den Extremitäten.
Gelegentlich (> 1‰) kann es zu akuten starken Blutdruckabfällen kommen (Kreislaufdepression und vasovagale Reaktion). Selten sind hingegen ausgeprägte lokale Entzündungen (z.B. Erysipel, Phlegmone oder Lymphangitiden) sowie relevante systemische allergische Reaktionen auf tierische Eiweiße des Blutegels oder des Speichels.
Auch ausgeprägte lokale Entzündungen sind jedoch i.d.R. nicht durch eine bakterielle Infektion ausgelöst, sondern durch eine örtliche Überreaktion auf die Speichelinhaltsstoffe. Etwa 20 % der Patienten neigen zu einer stärkeren Lokalreaktion, die sofort, aber auch erst nach einigen Tagen auftreten kann. Für die Behandlung dieser unerwünschten Nebenwirkung sind Antihistaminika (lokal oder systemisch) geeignet, zur Abgrenzung von einer bakteriellen Infektion sollten die Laborwerte CRP und Leukozyten herangezogen werden. Sind diese Werte deutlich erhöht, ist zusätzlich eine Antibiose angezeigt.
Einsatzbereiche der Blutegeltherapie
Die relevantesten komplementärmedizinischen Indikationen einer Blutegeltherapie sind:
- Schmerzen des Bewegungsapparats (v.a. bei Gon- und Rizarthrose, Patellarspitzensyndrom, rheumatoider Arthritis, Epicondylitis lateralis und LWS-Syndrom) sowie
- Venenerkrankungen der unteren Extremitäten (Thrombophlebitis, chronisch-venöse Insuffizienz, postthrombotisches Syndrom und Varikosis).
Für sie sowie für den Einsatz in der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie liegen mehrere positive Studien vor – eine Auswahl hierzu ist im Literaturverzeichnis wiedergegeben [3][4][5][6][7][8][9][10][11][12][13][14].
Insgesamt lassen sich unter dem Suchbegriff „leech therapy“ bei PubMed derzeit über 1100 Arbeiten finden, hierunter auch zahlreiche neuere Übersichtsarbeiten. Weitere mögliche Indikationen für eine Blutegeltherapie sind
- Hämatome,
- Tinnitus,
- Post-zoster-Neuralgie,
- Analvenenthrombose sowie
- Hämorrhoidalleiden.
Auch bei akutem Gichtanfall und chronischer Mittelohrentzündung kann eine Blutegeltherapie in Betracht gezogen werden. Letztlich ist über kutiviszerale Reflexbögen auch eine reflektorische Beeinflussung innerer Organe möglich, ähnlich wie beim Schröpfen oder bei der Neuraltherapie.
Cantharidenpflaster
Das Cantharidenextrakt aus der Laufkäferart „Spanische Fliege“ wird als blasenziehendes Mittel seit Jahrtausenden in verschiedener Form angewandt. Das Pulver des zermahlenen Käfers wird auch als Potenzmittel eingesetzt.
Das Cantharidenpflaster wurde erstmals ausdrücklich bei Alexander Dralianos im 7. Jahrhundert n. Chr. speziell zum Einsatz gegen chronisch-rheumatische Beschwerden beschrieben. Auch in der arabischen Medizin wurde es eingesetzt, z.B. als Stimulans zur Behebung soporöser Zustände unterschiedlichster Genese. Paracelsus behandelte nicht nur die Gicht mit dem Cantharidenpflaster, sondern setzte es auch bei Epilepsien oder Geisteskrankheiten ein, angeblich nicht ohne Erfolg.
Auch in der modernen Naturheilkunde (z.B. bei Hufeland) zählen die blasenziehenden Therapien, deren Wirkung sich aus Ausleitung und reflektorischer Reizung zusammensetzen, zu den wirksamsten Heilverfahren überhaupt. Während beim Aderlass oder blutigen Schröpfen das Blut im Vordergrund steht, erzielt das Cantharidenpflaster seine Wirkung v.a. über die Lymphe und wird daher auch als „weißer Aderlass“ oder die „weiße Schwester“ des Schröpfens bezeichnet.
Letztlich wird durch das Gift Cantharidin eine künstliche Verbrennung 2. Grades mit Brandblase erzeugt. Aus der Lymphdrainage nach außen und einer reaktiven Hyperämie resultieren die antiödematöse, analgetische und antiphlogistische Wirkung, Immunmodulation und lokale Stoffwechselsteigerung.
Einsatzbereiche des Cantharidenpflasters
Bewährt hat es sich
- bei chronischen Beschwerden der Wirbelsäule (üblicherweise über den Dornfortsätzen) und
- der Gelenke (z.B. Gonarthrose, Rizarthrose, Schulter-Arm-Syndrome, Iliosakralgelenke),
- bei Post-zoster- oder Interkostalneuralgie,
- Gicht sowie
- bei Pleuraergüssen und -schwarten.
Natürlich ist gemeinsam mit dem Patienten immer zu überlegen, ob nicht weniger „invasive“ Maßnahmen in Betracht kommen, auch wenn aus naturheilkundlicher Sicht die lokale „Schwächung“ weniger ausgeprägt ist als beispielsweise beim blutigen Schröpfen.
Anwendung des Cantharidenpflasters
Das betreffende Hautareal sollte ggf. rasiert und mit Benzin entfettet werden. Die Größe des Cantharidenpflasters kann von ca. 1 × 1 cm (z.B. retroaurikulär) bis zu maximal 10 × 15 cm (z.B. im Rückenbereich) betragen. Cantharidensalbe bzw. -pflaster als Fertigprodukt kann über einige (wenige) Apotheken bezogen werden. Größere Flächen sollten aufgrund der nephrotoxischen und blasenreizenden Wirkung des Cantharidins nicht geklebt werden. Die Auflage erfolgt v.a. im Schmerzbereich, jedoch nicht in Gelenkbeugen oder auf Schleimhäuten. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass die erzielte Hautreizung und -rötung über die ursprünglich aufgetragene Fläche noch etwas hinausgeht.
Die bei Raumtemperatur geschmeidige Paste sollte gleichmäßig und deckend etwa 1 mm dick auf die Haut aufgetragen werden, z.B. mit einem Spatel. Anschließend wird das behandelte Areal mit sterilen Kompressen abgedeckt und diese werden idealerweise mit einem Fensterrahmenverband fixiert (d.h. mit einer Folie abgedeckt, die mit Pflasterstreifen als Rahmen festgeklebt wird). Da es nach einigen Stunden regelmäßig zu brennenden Schmerzen kommt, empfiehlt es sich, das Pflaster vormittags anzulegen, um bei möglichen Überreaktionen noch zur Tageszeit reagieren zu können, z.B. mit Analgetika.
Um das Risiko für lokale Entzündungen als Komplikation zu minimieren, sollte das Pflaster eigentlich nicht vorzeitig abgenommen werden. Extreme Schmerzen sind aber in jedem Fall ein Grund, das Pflaster ggf. auch vorzeitig zu entfernen.
Die Verweildauer des Pflasters beträgt 12–16 Stunden, in denen eine Brandblase mit serösem bzw. lymphatischem Inhalt entsteht (klare bis bernsteinfarbene Flüssigkeit). Nach Abnahme des Verbands wird die Blase am besten mit einer großkalibrigen Kanüle angestochen, damit das Sekret abfließen kann. Die Blasenhaut kann als „Verband“ belassen werden, die Reste der Salbe sollten aber vorsichtig mit Kochsalzlösung entfernt werden.
Im Weiteren erfolgt dann eine Wundbehandlung wie bei einer Brandwunde 2. Grades mit ggf. Brand- bzw. Pflegesalbe und Verbinden mit sterilen Kompressen für einige Tage. Ein weiteres Pflaster an derselben Stelle darf frühestens nach 4 Wochen bzw. nach völligem Abheilen der Wunde aufgebracht werden. Um eine Pigmentverschiebung (Hyperpigmentierung) zu vermeiden, sollte der Patient für mindestens 6 Wochen UV-Strahlen meiden.
Kontraindikationen des Cantharidenpflasters
Kontraindikationen sind vorbestehende Erkrankungen der ableitenden Harnwege sowie Faktoren, die das Risiko einer Wundheilungsstörung im Anwendungsgebiet erhöhen, z.B. pAVK, Stauungsödeme und Diabetes mellitus, unklare Hautveränderungen oder auch akute Gelenkentzündungen.
Neben lokalen Entzündungen können Hyperpigmentierungen (v.a. bei stark pigmentierten Hauttypen) und Harnblasenreizungen als mögliche Nebenwirkungen auftreten.
Im Vergleich zur Blutegeltherapie ist beim Cantharidenpflaster die Studienlage deutlich dünner: Es gibt 2 kleinere Studien zum Thema von Rampp und Michalsen [15][16].
Autor
Robert Schmidt approbierte im Jahr 2005. Nach seiner Anerkennung als Facharzt für Innere Medizin waren Robert Schmidts berufliche Stationen in der Inneren Medizin am Krankenhaus Peißenberg sowie Starnberg. Seit 2014 ist er am Krankenhaus für Naturheilwesen in München tätig, zunächst als Oberarzt, seit 2020 als Chefarzt. 2019 erlangte er die Zusatzbezeichnungen Homöopathie und Naturheilverfahren.
E-Mail: Schmidt.Robert@kfn-muc.de
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[15] Rampp T, Michalsen A. Naturheilkundliche Behandlung einer Pleuropneumonie. Forsch Komplementmed 2006; 13: 116-118
[16] Rampp T, Michalsen A, Lüdtke R et al. Schmerzlindernde Wirkung von Cantharidenpflaster bei lumbaler Spinalkanalstenose. Forsch Komplementmed 2009; 16: 246–250