Immer mehr Erwachsene suchen Hilfe wegen digitaler Süchte.
Die Betroffenen verbringen 8 bis 10 Stunden täglich mit Chatten, sozialen Netzwerken, Computerspielen, Internet-Pornografie oder Online-Shopping und vernachlässigen wichtige Lebensbereiche. Vielen drohen Arbeitsplatzverlust, Trennung oder Verschuldung. Welche Wege aus der digitalen Sucht führen, berichtete ein Experte auf der Vorab-Online-Pressekonferenz zum Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Spezialeinrichtungen wie die Ambulanz für Spielsucht an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz registrieren seit der Pandemie gestiegene Zahlen von Patient*innen mit digitalen Süchten. „Während der Lockdowns brachen gewohnte Strukturen weg, und manche füllten die Leerlaufzeiten mit Internetanwendungen, die sich zur Abhängigkeit entwickelten“, berichtet der Psychologe Dr. Klaus Wölfling. Seit 2021 gebe es ein Zuwachs bei den Behandlungen Erwachsener zwischen 30 und 67 Jahren. Die Corona-Pandemie habe wie ein Katalysator gewirkt.
Warnzeichen: Krisen und Konflikte
Bis in das Rentenalter reiche das Klientel, das jetzt behandelt werde. Gemein ist den Betroffenen der Kontrollverlust, ein Merkmal jeder Sucht. „Sie kommen in die Ambulanzen und sagen: Ich schaffe es nicht mehr, meinen Internetkonsum zu kontrollieren“, so Wölfling. Viele berichten über die zwanghafte Angst, etwas zu verpassen, die „Fear of missing out“ (FOMO). „Abhängige können dann etwa nicht mit dem Egoshooter aufhören, weil sie fürchten, ihren Spielstand zu verlieren und aus Spielergruppen herauszufallen“, erläutert der Psychologe.
Es kommt zur Vernachlässigung von Beziehungen oder Arbeit, zu Krisen und Konflikten. „Solche negativen Veränderungen sind deutliche Warnzeichen für ein Suchtverhalten“, so der Psychologe Dr. Klaus Wölfling.
Dopaminschübe bei Likes
Aktuelle Zahlen, wie viele Menschen unter digitalen Süchten leiden, liegen nicht vor – die letzte repräsentative Studie stammt aus 2011 und identifizierte ein Prozent der Bevölkerung.
Wissenschaftlich ist Suchtverhalten jedoch klar umrissen. „Über mindestens zwölf Monate müssen fünf oder mehr von insgesamt neun psychischen Kriterien erfüllt sein“, erläutert Wölfling. Auch bestätigen Hirn-Scans, dass die Internetaktivität das Belohnungssystem im Gehirn aktiviert – ein typisches Suchtmuster. „Wir sehen im Ergebnis von MRT-Studien den Dopaminschub, wenn ein Like auf einen Post erfolgt oder bei Nachrichten das blaue Häkchen für ‚gelesen‘ erscheint“, berichtet der Psychologe. „Diese Erregung wird immer wieder gesucht, es entsteht ein Teufelskreis.“
Inzwischen sind Internet-, Computer- oder Glücksspielsucht im ICD-11 als Suchterkrankungen aufgenommen worden und damit der Kokain- oder Alkoholabhängigkeit gleichgestellt. Im Jahr 2023 soll dies auch für Deutschland gelten.
Rentner*innen werden oft aus Einsamkeit internetsüchtig
Es gibt Präferenzen bei digitalen Süchten. Bei der Generation Y etwa, den zwischen 1980 und 1999 Geborenen, sind vor allem Online-Rollenspiele und Egoshooter beliebt. „Sie sind mit diesen Spielen aufgewachsen“, berichtet Wölfling. Generell nutzen Männer tendenziell häufiger Online-Pornografie, Computer- oder Glücksspiele, während bei Frauen eher Online-Kaufsucht, Glücksspiele, soziale Netzwerke und Messenger dominieren.
„Im Rentenalter ist Einsamkeit ein großer Treiber für Digitalsüchte, dann wird über Spiele ein soziales Netzwerk gefunden“, stellt Wölfling fest. Dass sich eine Sucht entwickelt hat, fällt häufig den Kindern der Rentner*innen auf. „Sie registrieren, dass die Eltern nicht mehr abwaschen oder einkaufen gehen.“
Sucht-Prävention: Ruhephasen einhalten
Klaus Wölfling empfiehlt zur Prävention, auf ausgedehnte Ruhephasen zu achten – und das nicht nur zur Schlafenszeit. „Wir benötigen Ruhephasen für unsere gesundheitliche und seelische Balance“, sagt der Wissenschaftler. „Diese Phasen für sich selbst zu finden und umzusetzen, ist sicherlich eine der wichtigsten Aufgaben in unserer modernen digitalen Zeit.“
Darüber hinaus können Apps wie „One Sec“ sinnvoll sein, die der Nutzung sozialer Netzwerke vorgeschaltet werden. „Sie ploppen auf, wenn man in das soziale Netzwerk eintauchen will und rufen uns die Möglichkeit in Erinnerung, statt digitaler Ablenkung einfach mal Langeweile oder Einsamkeit zu ertragen“, sagt Wölfling. „Diese Zustände sind nichts Negatives. Es ist wichtig, sie aushalten zu können.“
Stationärer Entzug bei starkem Suchtverhalten
Bei stark ausgeprägtem Suchtverhalten ist eine stationäre Therapie angebracht, die meist 6 bis 8 Wochen dauert. „In solchen Fällen kann dem Suchtverhalten nicht mehr im häuslichen Umfeld begegnet werden, die Patient*innen müssen erst einmal vom Medium Internet entzogen werden“, betont Wölfling. Dabei können Entzugserscheinungen wie Schlafstörungen, innere Unruhe, Gereiztheit und Aggressivität auftreten. „Häufig kommen erst in der Abstinenz die eigentlichen Probleme zum Vorschein, die hinter der Internetsucht liegen – soziale Unsicherheiten oder Versagensängste beispielsweise“, sagt Wölfling.
Abstinenz vom Problemverhalten
Ob stationäre oder ambulante Therapie – Ziel ist die Abstinenz. „Damit ist nicht die komplette Abstinenz vom Internet gemeint, das wäre ja auch völlig lebensfremd“, erklärt Wölfling. „Sondern die Abstinenz vom Problemverhalten.“ Die Patient*innen lernen beispielsweise, Sexualität ohne Internet-Pornografie zu leben, in Form partnerschaftlich gelebter Sexualität oder Selbstbefriedigung ohne Bildvorlage. „Dafür nutzen wir Verhaltens- und Gruppentherapie“, so Wölfling. „Wir konnten in Mainz in einer randomisiert kontrollierten Studie wissenschaftlich sehr gute Effekte einer derartigen Therapie nachweisen.“ Die Multicenter-Studie zeigt, dass die Behandlung es 10-fach wahrscheinlicher macht, am Ende abstinent und zufriedener zu sein.
Selbsttest zum Computerspiel-Verhalten
Auf jeden Fall sollten Betroffene professionelle Hilfe suchen – etwa in einer Suchtberatung oder bei einem Arzt oder Psychologen, rät der Experte. „Es sollte eine Einschätzung erfolgen, ob wir es noch mit problematischem oder schon mit Suchtverhalten zu tun haben“, sagt Wölfling.
Selbsttests
Die Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uni Mainz hat 3 Selbsttests bereitgestellt:
Quelle: Deutscher Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie