HIV"Ich muss erstmal Vertrauen aufbauen"

HIV-Sprechstunde für Kinder in Hannover: Prof. Ulrich Baumann leitet seit über 20 Jahren die HIV-Kinderambulanz. Im Interview spricht er über seine Arbeit mit HIV-positiven Kindern und deren Familien.

Prof. Ulrich Baumann
Janna Zurheiden/MHH

Prof. Ulrich Baumann.

Prof. Dr. Ulrich Baumann leitet seit über 20 Jahren die HIV-Kinderambulanz an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Das tut er neben seinen administrativen Tätigkeiten als geschäftsführender Oberarzt und seiner Sprechstunde für Kinder mit angeborenen Störungen des Immunsystems. Konkret betreut er 45 junge Patient*innen, die sich bei ihm in regelmäßigen Abständen untersuchen lassen, sowie drei bis vier Neuvorstellungen pro Jahr.

Von Neugeborenen bis zu fast Volljährigen ist alles mit dabei, verrät der Kinderarzt. Wichtig ist vor allem, die Krankheit möglichst früh zu diagnostizieren, dann liegt die Lebenserwartung in etwa so hoch wie bei gesunden Menschen. In der Regel gelingt das auch, erzählt Baumann, da werdende Mütter in Deutschland standardmäßig auf HIV getestet werden. Wie sie sich dennoch anstecken und aus was für Verhältnissen die Kinder kommen, erzählt Ulrich Baumann im Interview.

Prof. Baumann, wie stecken sich Kinder heutzutage mit HIV an?

Die große Mehrzahl der Kinder hat die HIV-Infektion bei Geburt erhalten, durch den Blut-zu-Blut- oder Blut-zu-Schleimhaut-Kontakt mit ihren Müttern. Häufig in einer Situation, in der die Mütter nicht Bescheid wussten, dass sie HIV-positiv sind und entsprechend die Virusreplikation nicht unterdrückt werden konnte. Es gibt auch andere Ansteckungen nach Geburt. Ein sexueller Missbrauch ist bei einer meiner Patientinnen geschehen. Zwei Patienten haben sich durch Medizinmaßnahmen angesteckt, aber nicht in Deutschland und bei einem ist das auch schon sehr lange her. Insgesamt ist die Ansteckung durch Medizinmaßnahmen sehr selten.

Aus was für Verhältnissen kommen die Kinder?

Die Verhältnisse sind mehrheitlich nicht einfach. Drei Viertel der Kinder haben keine intakte Familie. Viele haben einen Elternteil verloren, manche auch beide. Diese leben dann bei Verwandten, häufig in Pflegefamilien oder in Kinderheimen. Wir haben einen hohen Anteil von Kindern aus Migrationsfamilien. Gerade Subsahara-Afrika mit der dort hohen HIV-Prävalenz, auch Ost Europa, die GUS-Staaten haben eine hohe Kinder-HIV-Rate, dann der Ferne Osten, Thailand hat eine hohe HIV Infektionsrate. Und inzwischen habe ich auch den ersten positiven Patienten aus Lateinamerika.

Wirtschaftlich geht es den meisten nicht gut. Mehr als die Hälfte der Kinder fährt nicht in die Ferien. Und damit ist die Sommerferienwoche, zu der ich meine Patienten und ihre Familien einlade, die einzige Ferienreise die sie haben. Das ist so ein bisschen die fünfte Jahreszeit, worauf die sich immer freuen.

Was genau passiert in der Ambulanz?

In einer Ambulanzsituation passieren ganz viele Ebenen gleichzeitig. Zu mir kommen Kinder mit HIV-Infektion, davon die Mehrzahl mit gesicherter Infektion. Das ist eine chronische Erkrankung, die Infektion wird man ja nicht mehr los, wie sicherlich jeder weiß. Aber sie ist nicht mehr tödlich. Und ich kann die Kinder tatsächlich von der Diagnosestellung bis sie erwachsen werden begleiten. Ich muss sie aber auch begleiten. Ich muss immer aufpassen, dass sie die richtige Dosierung und Medikation kriegen, und aufpassen, dass sie es auch richtig nehmen.

Es ist eine Begleitungs- und Überwachungsfunktion. Daneben untersuche ich Kinder, die eine HIV-Exposition hatten. Exposition heißt, sie hatten Kontakt mit der Infektion. In der Regel sind das Kinder, die neugeboren sind und im Rahmen der Geburt das Risiko hatten, die Viren bei der Mutter zu akquirieren.

Obwohl es nie eine Kind-zu-Kind-Infektion gab und die Medikamente eine Ansteckung unmöglich machen, herrschen noch immer große Stigmata in unserer Gesellschaft.

Und worauf müssen Sie bei einem Erstgespräch achten?

Wenn es darum geht, HIV-Infektionen zu untersuchen und zu besprechen, muss ich erstmal sicherstellen, weiß das Kind Bescheid, was es hat. Wenn es kleiner ist, in der Regel nicht. Ich muss dann mit den Eltern erstmal schauen, wie können wir um den heißen Brei herumreden, weil die Kinder nicht erfahren dürfen, dass sie HIV-positiv sind. Dann muss ich erstmal Vertrauen aufbauen, dass die Eltern auch wissen, ich weiß darum Bescheid, es ist eine „delikate“ Krankheit und das darf nicht nach außen bekannt werden.

Obwohl es nie eine Kind-zu-Kind-Infektion gab und die Medikamente eine Ansteckung ohnehin unmöglich machen, herrschen noch immer große Stigmata in unserer Gesellschaft. Dieses Vertrauen muss ich in den ersten 5 bis 10 Minuten aufbauen. Das gelingt in der Regel, weil ich sehr genau weiß, wie viel Angst die Eltern haben, dass die HIV-Infektion bekannt wird.

Dann geht es um die Details; ist das Kind schon vorbehandelt, welche Medikation bekommt es, was sind die Nebenwirkungen, wie gut wird es vertragen, wie regelmäßig genommen. Ich muss dann einen ganzen Reigen an Fragen stellen. Welche Komplikationen oder Ko-Infektionen hat das Kind schon. Das ist dann eine medizinisch gegebenenfalls recht komplexe Geschichte. Manchmal ist es auch ganz einfach. Die Kinder sind noch kerngesund und es geht nur noch um die Frage, die richtige Medikation zusammenzustellen.

Wie sind die Lebenserwartungen, wenn man sich als Kind mit HIV infiziert?

Das kommt ein bisschen drauf an, ob das Kind schon eine fortgeschrittene Immunsuppression durch die HIV-Infektion hat. Gehen wir davon aus, die Diagnose steht früh und das Immunsystem ist noch nicht wesentlich beeinträchtigt, dann gehen wir davon aus, dass die Lebenserwartung nahe der jetzt zu erwartenden Lebensspanne bei gesunden Menschen steht. Das können wir noch nicht beweisen, bitte geben Sie mir dafür noch 85 Jahre Zeit. Aber die Sterberate unter Erwachsenen, die die heute mögliche Therapie erhalten, ist so gering, dass wir diese Annahme jetzt wagen.

Die Fragen stellte Janna Zurheiden/Medizinische Hochschule Hannover.

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