von Sandra Bürklin
Epidemiologie und westliche Diagnostik/Therapie
In Deutschland leiden ca. 5 Millionen Menschen an einer Polyneuropathie. Der Begriff „Polyneuropathie“ leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet „Erkrankung vieler peripherer Nerven“. Ursächlich hierfür können internistische Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes mellitus oder ein Vitamin-B12-Mangel, akut entzündliche Erkrankungen oder auch ein chronischer Alkoholkonsum sein. Polyneuropathien können sowohl die sensiblen als auch die motorischen oder autonomen Nerven betreffen. Häufig finden sich Polyneuropathien in den Extremitäten, vor allem beginnend an den Händen und Füßen. Die Patienten bekommen mit der Zeit Missempfindungen wie Kribbeln, Brennen, Stechen und auch Schmerzen. Teilweise ist dadurch bedingt auch eine Gangunsicherheit vorhanden.
Die westliche Therapie besteht vor allem in einer Behandlung der Grunderkrankung und einer medikamentösen Therapie mit Antidepressiva oder auch Antikonvulsiva (Medikamente zur Epilepsiebehandlung). In den meisten Fällen kann die Polyneuropathie allerdings nicht gebessert oder geheilt, sondern lediglich ein schnelles Fortschreiten der Symptome verzögert werden.
Polyneuropathie behandeln mit der TCM
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) basiert auf Erfahrungen und Behandlungen, die sich mindestens 2000 Jahre in schriftlicher Form zurückverfolgen lassen. Sie wird bis heute als eigenständiges Medizinsystem in China und zunehmend auch in der westlichen Medizin angewandt und unterrichtet. Im Gegensatz zur uns bekannten klassischen Schulmedizin ist die TCM eine empirische Medizin, die den Patienten in seiner Gesamtheit betrachtet und behandelt.
Die Diagnose wird nach den Regeln der TCM wird mithilfe einer ausführlichen TCM-Anamnese, einer vollständigen Untersuchung, der Zungen- und der Pulsdiagnose gestellt. Anhand dieser spezifischen TCM-Diagnose wird ein Behandlungskonzept erstellt, welches je nach Notwendigkeit die Behandlung mit Akupunktur, Pharmakotherapie und Ernährungsberatung einschließt. Zudem werden häufig Hinweise zu einer Verbesserung der Lebensführung gegeben, und auch eine Behandlung mit manuellen Therapien wie z. B. Tuina sowie das selbstständige Praktizieren von z. B. Taiji oder Qigong durch den Patienten sind hilfreich und gesundheitsfördernd.
Chinesische Diagnostik
Die Grundlagen für eine Diagnose nach den Regeln der TCM bilden die Symptome des Patienten, sein äußeres Erscheinungsbild sowie die Zungen- und Pulsdiagnose. Dabei wird schwerpunktmäßig vor allem das aktive Körpergewebe beurteilt. Dies umfasst auch die Funktion der inneren Organe und den Zustand der Muskeln, Sehnen und Nerven. Die Befragung der Patienten schließt die aktuellen Beschwerden des Patienten und ebenso z. B. den Appetit, die Verdauung, den Schlaf und das Temperaturempfinden des Patienten mit ein.
Das äußere Erscheinungsbild des Patienten wird anhand von bestimmten Kriterien der TCM beurteilt und umfasst neben diesem den Geruch, den Stimmklang und die Bewegungen. Die Zunge des Patienten wird als Abbild seines energetischen Zustands angesehen und erlaubt die diagnostische Beurteilung aufgrund der Größe, Form, Farbe und Struktur der Zunge und des Zungenbelags.
Bei der Pulsdiagnostik ertastet der Arzt an 6 definierten Stellen in jeweils 3 definierten Tastniveaus unterschiedliche Pulsqualitäten. Diese geben ihm einen Hinweis auf die Zusammensetzung der Gewebe (Blutgefäße), die nährenden Flüssigkeiten (Blut) und die aktive Energie (Pulswelle) des Körpers des Patienten. Die Qualitäten des Pulses zeigen dem Arzt die energetischen Veränderungen im Körper des Patienten an.
Zusammenfassend ergeben diese 4 Kriterien eine Diagnose der TCM, aus welcher die weitere Behandlung hervorgeht und anhand derer eine Therapiestrategie entwickelt wird.
Chinesische Diagnose der Polyneuropathie
Aus Sicht der chinesischen Medizin ist die Hauptursache einer Polyneuropathie eine Ansammlung von Schleim (Tan). Als Schleim werden hierbei alle Substanzen des Körpers bezeichnet, die sich in pathologischer Art und Weise angesammelt und den physiologischen Körperprozessen der Verarbeitung und Ausscheidung entzogen haben. Dies kann mehrere Ursachen haben, oft ist aber eine deutliche Überlastung des Funktionskreises Magen/Milz (Pi Wei) zugrunde liegend. Dies ist sehr häufig durch eine langfristige Fehl- oder Mangelernährung bedingt.
Durch die zunehmende Überlastung des Körpers beginnt der Schleim nach unten in Richtung der Beine abzusinken und sich dort anzusammeln. Dies wiederum führt dann auch zu Stauungen im Blut (Xue – im erweiterten Sinne die stofflich gewordene Form von Qi), welche dann die Unterversorgung der Nerven und daraus resultierenden Symptome wie Missempfindungen, Schmerzen etc. bedingen. Im ungünstigsten Fall können diese Stauungen und Ablagerungen auch Schleim-Hitze erzeugen, ein Zustand, bei dem Entzündungen entstehen.
Therapien
Zu den Therapien der Traditionellen Chinesischen Medizin zählen die Akupunktur und die Wärmebehandlung mit Moxatherapie, die Pharmakotherapie, die Ernährungstherapie und auch manuelle Therapien wie z. B. Tuina. Ergänzt wird dieses Behandlungskonzept der 5 Säulen durch vom Patienten selbstständig durchzuführende Übungen aus dem Qigong oder Taiji. Im Verlauf sollten die Patienten vor allem ihre Lebensführung anpassen und optimieren, um einen bestmöglichen Behandlungserfolg und vor allem eine Gesunderhaltung ihres Körpers zu fördern.
Akupunktur
Die Traditionelle Chinesische Medizin betrachtet den Menschen in seiner Gesamtheit, und ihre Behandlungen beruhen vor allem auf einer Wiederherstellung des energetischen Gleichgewichtes des Körpers. Das energetische Potenzial des Menschen wird als „Qi“ bezeichnet. Es soll sich im gleichmäßigen Fluss auf definierten Leitbahnen (Meridianen), welche unterhalb der Haut verlaufen, befinden und die Organe des Körpers versorgen und erhalten.
Durch die Behandlung mit Akupunktur wird an verschiedenen, genau definierten Punkten das Qi und sein Fluss in den Meridianen beeinflusst. Dadurch ist es möglich, den Energiefluss im Körper zu harmonisieren, Organe gezielt zu stärken oder überschüssige Energie abzuleiten und pathologische, krankheitsauslösende Faktoren gemäß der TCM-Diagnose zu eliminieren.
Bei der Polyneuropathie werden häufig folgende Akupunkturpunkte genutzt (die auch von den Patienten regelmäßig zu Hause akupressiert werden können).
Ma 36 (Zusanli)
- stützt und stärkt die Funktionskreise Milz und Magen, wirkt Stagnationen entgegen und harmonisiert Qi und Xue (Abb. 1)
Ma 40 (Fenglong)
- wandelt Schleim um und treibt Schleim aus dem Körper, bewegt das Qi der Funktionskreise Milz und Magen und wirkt damit Stagnationen entgegen (Abb. 1)
Mi 6 (Sanyinjiao)
- Verbindungspunkt der 3 Yin-Leitbahnen am Fuß, kräftigt den Funktionskreis Milz, wandelt Nässe um, steigert die Verteilung der Säfte im Körper (Abb. 2)
Mi 9 (Yinlingquan)
- leitet Nässe aus, reguliert den Fluss, bringt Qi in die unteren Extremitäten (Abb. 2)
Ni 3 (Taixi)
- stärkt das Qi der Funktionskreise Niere und Leber, kühlt Hitze, kräftigt den unteren Rückenbereich und die Knie
Le 3 (Taichong)
- kühlt Xue, reguliert dessen Fluss und wirkt damit Stagnationen entgegen, senkt Yang ab, unterstützt die Funktionskreise Leber und Gallenblase
Gb 34 (Yanglingquan)
- stärkt die Funktionsbereiche Leber, Gallenblase, Milz und Niere, entspannt die Sehnen, eliminiert Schleim und Hitze
EX 10 (Bafeng)
- wandelt Hitze-Nässe um und leitet sie aus dem Körper hinaus, wird eingesetzt bei Schmerzen in den Füßen, bei Schwächegefühl und Sensibilitätsstörungen in den Füßen (Abb. 3)
Pharmakotherapie
In der Traditionellen Chinesischen Medizin stellt die Behandlung mit Pharmakotherapie eine wichtige Basis dar. Hierfür werden vor allem pflanzliche Heilmittel wie z. B. Blüten und Rinden benutzt. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Yi Yi Ren (Hiobstränensamen), die von den Patient*innen auch gerne in die Ernährung mit eingebaut werden können, und Ku Shen.
In Deutschland werden die unterschiedlichen Einzelmittel und ihre Zusammensetzungen in speziell auf den Patienten abgestimmten Rezepturen nur über Apotheken abgegeben. Dadurch sind die Qualität und Herkunft der Heilmittel gesichert. Es besteht auch die Möglichkeit der Therapie mit fertig hergestellten Tabletten, die nach höchsten Qualitätsstandards produziert werden und einer ständigen EU-Kontrolle unterliegen.
Durch die Behandlung mit chinesischen Arzneimitteln ist es vor allem möglich, energetische Mangelzustände im Körper zu beheben, einen gleichmäßigen Fluss von Qi zu gewährleisten und pathogene Faktoren akut und dauerhaft auszuleiten.
Ernährungsberatung (Diätetik)
In China war man sich schon zu sehr früher Zeit bewusst, dass eine ausgewogene Ernährung eine wichtige Voraussetzung für die Gesundheit ist. Man betrachtete daher Nahrungsmittel als mild wirkende Medikamente und setzte sie gezielt im Alltag ein. Sie können wärmend oder kühlend wirken, stabilisierend und erhaltend oder auch ausleitend sein. Zudem erhalten die Patienten dadurch die großartige Möglichkeit, selbst an der Wiederherstellung und auch Erhaltung ihrer Gesundheit zu arbeiten und diese langfristig auch gewährleisten zu können.
Bei Patienten, die unter einer Polyneuropathie leiden, bietet sich eine Ernährung mit stärkenden Lebensmitteln an. Diese sollten möglichst keinen weiteren Schleim erzeugen. Grundsätzlich ist darauf zu achten, dass man dreimal am Tag in Ruhe isst. Hierbei sollten möglichst alle Mahlzeiten warm verzehrt werden. Vor allem ein warmes, stärkendes Frühstück wie z. B. ein Congee (chinesischer Reisbrei) oder ein Porridge sind sehr zu empfehlen. Auf kalte und zu fettige Nahrungsmittel sollte möglichst verzichtet werden. Auch Milchprodukte sind in diesem Zusammenhang zu meiden.
Abends kann man beispielsweise warmes Gemüse oder auch Suppen genießen.
Lebensführung
Die Lebensführung hat in China einen sehr hohen Stellenwert und ist zur Erhaltung der Gesundheit in der chinesischen Kultur tief verwurzelt. Die Vermeidung von Krankheiten (die häufig auch tödlich enden konnten) und die Stärkung des Körpers war für die Menschen in der ursprünglichen Zeit das wichtigste Werkzeug, um lange zu überleben. Die Menschen führten daher regelmäßig geistige und auch körperliche Betätigungen wie zum Beispiel Qigong oder Taiji durch und bereiteten auch entsprechend ihres körperlichen und geistigen Zustandes ihre Nahrung zu.
Wichtig sind vor einer Behandlung einer Polyneuropathie immer die Abklärung und Diagnosestellung durch einen Facharzt für Neurologie. Die Verdachtsdiagnose wird hierbei schon aufgrund der neurologischen Untersuchung gestellt, bei der sich z. B. eine verminderte Sensibilität der Nerven der Füße oder auch eine deutliche Gleichgewichtsstörung und Gangunsicherheit zeigt. Häufig beschreiben die Patienten in der Anamnese bereits ein ungewohntes Kribbeln, das Gefühl, als „ob sie ständig Socken anhätten“, oder sie berichten von häufigen Stürzen. Bestätigt wird die Diagnose dann durch die Durchführung einer elektrophysiologischen Untersuchung, bei der mithilfe von kurzen Stromintervallen die Leitgeschwindigkeiten der Nerven gemessen werden.
Auch für die TCM-Behandlung der Polyneuropathie sollte ein erfahrener TCM-Arzt aufgesucht werden.
Ein Fall aus der Praxis
Anamnese
In meiner Praxis stellte sich ein 50-jähriger Patient vor, der berichtete, dass ihm in letzter Zeit die Zehen häufig kribbeln würden. Dies gehe schon ca. 1,5 Jahre so, allerdings sei es zu Beginn immer wieder weniger geworden, doch nun schon ausgeprägt vorhanden. In ärztlicher Betreuung sei er nicht, nehme keine Medikamente und habe auch keine bekannten Vorerkrankungen. Allerdings habe er in den letzten 2 Jahren viel gegessen und getrunken, stark an Gewicht zugenommen und auch deutlich weniger Sport gemacht.
Diagnostik
In der klinisch-neurologischen Untersuchung zeigte sich eine leichte sockenförmige Hypästhesie an beiden Füßen. Der Einbeinstand war etwas unsicher. Ansonsten fanden sich keine Einschränkungen. In der Routinelaborkontrolle zeigte sich ein erhöhter HbA1c und auch der Nüchternzuckerwert war erhöht. Der Patient führte daraufhin selbstständig über 3 Tage Blutzuckermessungen durch, die alle insgesamt erhöhte Werte zeigten. In der klinischen Elektrophysiologie bestätigte sich die Verdachtsdiagnose einer beidseitigen, symmetrischen Polyneuropathie. In Folge wurde eine Therapie mit Metformin begonnen.
In der chinesischen Diagnostik wurden ein ausgeprägter Qi-Mangel in den Funktionskreisen Milz und Magen sowie ein ausgeprägter Schleimbefund deutlich.
Therapie
Wir behandelten den Patienten über 15 Wochen mit einmal wöchentlicher Akupunktur und chinesischen Arzneimitteln, um den Schleim auszuleiten und auch den Funktionskreis Magen/Milz zu stärken. Hierbei wurden vor allem die Akupunkturpunkte Ma 36, Ma 40, Mi 3, Mi 6, Mi 9, Ni 3, Gb 43 und Bafeng benutzt. Genadelt wurde jeweils beidseitig symmetrisch, die Nadeln wurden ca. 20–25 Minuten im Körper belassen.
Der Patient wurde zusätzlich mit chinesischen Arzneimitteln behandelt, die er dreimal täglich in einer mittleren Dosierung einnahm. Der Therapieschwerpunkt war initial auf die Schleimelimination ausgelegt und wurde im Verlauf zur Stärkung der Funktionskreise Magen/Milz hin verschoben. Zudem erhielt der Patient Tipps zur Ernährungsumstellung, welche er auch schnell in seinen Tagesablauf einbaute. Zudem begann er dreimal pro Woche ein Ausdauertraining über 30–60 Minuten durchzuführen. Im Laufe der 15 Wochen konnte er so über 10 kg abnehmen.
Verlauf
In der Kontrolluntersuchung nach 15 Wochen war elektrophysiologisch eine deutliche Besserung erkennbar, die Blutzuckerwerte waren über 3 Tage im Normbereich und der HbA1c nur noch minimal erhöht.
Zur Erhaltung der Gesundheit wurde mit dem Patienten besprochen, dass er für das nächste halbe Jahr regelmäßig in Abständen von 2–3 Wochen zur Akupunkturbehandlung in die Praxis kommt. Bisher stabilisiert sich der Verlauf sehr gut, der Patient berichtet, beschwerdefrei zu sein.
Autorin
Dr. med. Sandra Bürklin
Fachärztin für Neurologie
Sie ist im Vorstand und Wissenschaftlichen Beirat der Internationalen Gesellschaft für Chinesische Medizin e. V. (SMS).
Literatur
[1] Schmincke C. Polyneuropathie-Behandlung in der Klinik am Steigerwald. Chin Med 2009; 1: 17-27
[2] Schmincke C, Torres-Londoño P, Seiling M. et al. Evaluation von Verfahren der traditionellen chinesischen Medizin in der Klinik am Steigerwald. Teil Erhebungsmethodik. Forsch Komplementmed 2008; 15: 89-95
[3] Schmincke C. Chinesische Medizin für die westliche Welt. 2. Ed.. Berlin: Springer; 2004
[4] Heuß D. et al. Diagnostik bei Polyneuropathien, S1-Leitlinie, 2019, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 30.10.2021)