InterviewAyurveda in der onkologischen Therapie

„Schulmedizin und Ayurveda lassen sich sehr gut kombinieren und profitieren von den Stärken des jeweils anderen Systems.“ Ein Gespräch mit Dr. Hedwig Gupta

Hedwig Gupta, Ayurveda, Onkologie
Quelle: A. Niklas/Thieme

Dr. med. Hedwig Gupta


Sie sind Orthopädin und arbeiten seit Jahrzehnten auch mit ayurvedischer Medizin. Was hat Sie am Ayurveda fasziniert?

Ich stamme aus einer Ärztefamilie. Meine Großeltern und mein Vater waren Orthopäden mit universitärer, schulmedizinischer Orientierung. In meiner Jugend traten bei mir chronische Schmerzen auf, die mich sehr einschränkten. Während des Abiturs nahm ich Morphin und NSAR. Ich hatte ein wirklich gutes Umfeld, bin aber durch das Raster der schulmedizinischen Therapien gefallen. Irgendwann stellte ich mir die Frage, ob es nicht ein anderes Medizinsystem gibt. Das war in meinem Umfeld gar nicht so einfach. Über verschiedene Verfahren kam ich zunächst zur Akupunktur und Meditation, später zum Ayurveda als einem ganzheitlichen Medizinsystem.


Und dann begannen Sie den Ayurveda zu studieren?

Ja. Im Vertrauen darauf, dass es ein Medizinsystem gibt, das die verschiedenen Ebenen des Seins zusammenbringt, andere Zusammenhänge sieht und andere Lösungsmöglichkeiten anbietet. Während eines Urlaubssemesters bin ich nach Indien gereist, um das System kennenzulernen. Auch ich hatte Vorbehalte, Begriffe wie Yogatherapie waren vor 25 Jahren noch alles andere als etabliert und der Ayurveda war noch kaum bekannt. Nach dem Studium ging ich dann nach Indien, um den Ayurveda zu studieren. Und seitdem hat er mich nicht mehr losgelassen.


Welche Möglichkeiten bietet der Ayurveda, die der westlichen Medizin fehlen?

Der Ayurveda bildet ein Dach, unter dem sich ein logisch aufgebautes System befindet. Er betrachtet vom Spirituellen bis zum Materiellen alle Einflüsse, die auf ein Leben einwirken können. Durch eine neutrale Betrachtung kommen wir nicht in die Gefahr, uns nur auf eine Ebene oder Ursache zu fokussieren, die in der Schulmedizin leicht besteht.

Die Herangehensweise bei Erkrankungen ist immer multikausal und geschieht auf vielen Ebenen gleichzeitig. Beispielsweise wenn ein Patient Kopfschmerzen und Arthrose hat, betrachten wir in der Schulmedizin zwei getrennte Störungen, maximal würden wir einen vegetativen Zusammenhang vermuten. Im Ayurveda werden die Störungen nicht getrennt betrachtet und dementsprechend auch nicht getrennt voneinander behandelt.

Ein weiterer Punkt ist die Eigenverantwortung des Patienten. Er ist nie nur Empfänger, sondern immer ein entscheidendes und handelndes Subjekt in der Therapie. Er kann so zum Erfolg einer Behandlung selbst beitragen.


Wie geht der Ayurveda in der Praxis vor?

Wir schauen immer zuerst auf die Ursachenebene. Eine Erkrankung, die einfach auftritt, bei Menschen, die immer alles richtig gemacht haben, ist wirklich selten. Meist können wir die Ursachenketten aus ayurvedischer Sicht gut verfolgen, z. B. chronische Überlastung, chronische Fehlernährung, Menschen, die ständig ihren Ärger, ihre Sorgen und Ängste herunterschlucken.

Der erste therapeutische Schritt ist, die Ursachenkette zu beenden, d. h. gemeinsam mit dem Patienten zu eruieren, was man tun kann, um diesen krankmachenden Einflüssen zu begegnen. Der nächste Schritt jeglicher Therapie widmet sich der Harmonisierung des Stoffwechsels, denn nur wenn der Stoffwechsel im Lot ist, können schädigende Stoffe oder Ablagerungen abgebaut und ausgeschieden werden und die folgenden Therapien wirken.


Welche therapeutischen Optionen bietet die ayurvedische Medizin bei Krebs?

Die Stärke des Ayurveda liegt in der supportiven Therapie, z. B. damit sich der Patient schneller von einer Operation erholt, die Nebenwirkungen einer Chemo- oder Strahlentherapie milder verlaufen oder der Patient nach einer Krebstherapie wieder zu seiner bestmöglichen Leistungsfähigkeit zurückfindet. Wir legen den Fokus auf die Stärkung des Immunsystems, einen gut funktionierenden Stoffwechsel und den Ausgleich des energetischen Systems. Dazu setzen wir ein breites therapeutisches Spektrum ein mit innerlichen und äußerlichen Techniken sowie Yoga und Meditation.

Die Besonderheit liegt darin, dass sich beide Systeme, die Schulmedizin und der Ayurveda, sehr gut kombinieren lassen und von den Stärken des jeweils anderen Systems profitieren.


Welche Symptome möchten die Patienten besonders häufig ayurvedisch angehen?

In der Regel wurden oder werden die Patienten bereits operativ, mit Chemo- und/oder Strahlentherapie behandelt. Wir versuchen dann differenziert abzuwägen, welche ayurvedischen Begleittherapien sinnvoll und etabliert sind. Diese Patienten leiden oft unter kardio- oder lungentoxischen Nebenwirkungen, Wundheilungsstörungen, Erschöpfung, finden nicht zu ihrer alten Leistungsfähigkeit zurück oder haben den roten Faden in ihrem Leben nach der Krebserkrankung verloren.

Manche Patienten kommen schon relativ früh, weil sie eine ayurvedische Begleittherapie möchten oder vielleicht unsicher sind, ob sie sich überhaupt einer schulmedizinischen Therapie unterziehen möchten. Wenn ein Patient die schulmedizinische Behandlung ablehnt, kläre ich ihn auf und rate zur evidenzbasierten Medizin. Bleibt er trotzdem bei dieser Entscheidung, bin ich bereit, ihn auch auf diesem Weg zu begleiten.

Und es stellen sich Patienten im Endstadium einer Tumorerkrankung vor, bei denen wir ayurvedisch einiges tun können, um die Lebensqualität zu verbessern. Wir hatten z.B. einen Patienten mit einer aggressiven metastasierten Krebserkrankung, den wir regelmäßig mit ayurvedischen Ganzkörpermassagen und aufbauenden Kräutern behandelt haben. Kurz vor seinem Tod hat er gesagt, die ayurvedischen Behandlungen seien für ihn Lichtblicke in diesen letzten Monaten seines Lebens gewesen, in denen er seinen Körper noch einmal anders wahrgenommen habe, leichter, weicher und kräftiger.


Wie behandeln Sie ayurvedisch z.B. die bei Krebspatienten häufige Fatigue?

Der Tumor und die Behandlung entziehen dem Körper Kraft. Aus ayurvedischer Sicht verliert der Körper immer mehr Saft. Behandlungsziel ist, die Säfte in allen Geweben des Körpers über aufbauende Techniken zu stärken. Der erste Schritt ist, das Stoffwechselsystem (das Verdauungsfeuer) aufzubauen. Das kann erreicht werden z.B. mit der geeigneten Ernährung, mit Verhaltenstechniken, mit leichten Reinigungen wie Ölziehen oder Heißwassertrinken. Es sind oft banal erscheinende Interventionen, die langsam dazu führen, dass der Appetit wiederkommt und klinisch keine Zeichen von Stoffwechselschlacken mehr vorhanden sind. Dann beginnen wir, den Körper wieder zu nähren und aufzubauen. Äußerlich wenden wir Ganzkörpertherapien an, meist als Serie über mehrere Tage, z. B. Ölmassagen.

Diese Therapien sind durchaus nicht passiv und verlangen den Patienten viel ab, anfangs sind sie oft erschöpfter als vorher. Auch die so aufgenommenen Öle müssen verstoffwechselt werden. Andere Techniken sind z.B. Nasya, die ayurvedische Nasenbehandlung, oder Einläufe. Es braucht Geduld, aber wir können immer wieder gute Erfolge beobachten.


Wie viel Zeit benötigt eine Behandlung?

Die Aufbaukur benötigt ca. drei Wochen. Die Erschöpfung nimmt anfangs noch etwas zu, weil die Patienten unter Anspannung stehen, um über die Erschöpfung hinwegzukommen. Lässt die Anspannung nach, nehmen sie die Erschöpfung klarer wahr. Dann geht es schrittweise nach oben. Auch nach der Kur können die Patienten noch keine Bäume ausreißen, aber sie spüren, dass es ihnen besser geht. Nach diesen drei Wochen genügen i.d.R. Phyto- und Ernährungstherapie sowie Selbstmassagen.


Gibt es bewährte ayurvedische Phytotherapeutika?

Grundsätzlich wird immer individuell behandelt. Aber es gibt ein paar Evergreens: zur Stoffwechselreinigung z.B. Triphala (Kräuterkombination aus Haritaki, Amalaki, Bibhitaki) oder Trikatu (schwarzer Pfeffer, langer Pfeffer, Ingwer), manchmal auch in Kombination mit Guggul (indische Myrte).

Im Aufbau hängt es auch davon ab, welche Ebene gestärkt werden soll. Für jedes Gewebe existieren spezifische Aufbaukräuter. Bewährte Mittel, die z.T. gut erforscht sind, sind z. B. Ashvagandha (Schlafbeere), Bala (Sandmalve), Kapikachhu (Juckbohne), Amalaki (indische Stachelbeere) oder Shilajit (Bitumen aus den Höhlen des Himalaya).

Sind Wechselwirkungen zu befürchten?

Ja, natürlich. Jede Substanz hat Wirkungen und kann Wechselwirkungen hervorrufen. In einer Pflanze sind anders als in den hochgereinigten Substanzen der Schulmedizin viele mögliche aktive Komponenten enthalten.

Hier müssen sich der Onkologe und der ayurvedische Arzt sehr gut absprechen. Wenn z. B. eine Chemotherapie eingesetzt werden soll und parallel ein ayurvedisches Phytotherapeutikum verabreicht wird, das die Durchblutung des vom Tumor betroffenen Gewebes reduziert, ist die Chemotherapie weniger effektiv.

Der ayurvedische Arzt benötigt sehr gute Kenntnisse der einzelnen Phytotherapeutika. Bala beispielsweise ist schwer verdaulich und kann das Gewebe wieder zum Wachsen bringen, was bei Tumorerkrankungen je nach betroffenem Gewebe vermieden werden soll.


Wie gehen Sie im Yoga vor bei Fatigue-Patienten?

Im Yoga gehen wir langsam, achtsam, nicht überlastend vor. Wir üben Standhaltungen, Sitzhaltungen, leicht kräftigende Haltungen, z.B. den Held oder den Baum. Wir arbeiten mit Visualisationen, mit Chakra-Vorstellungen und Bija-Mantra, d.h. Mantren, die die unterschiedlichen Chakren aktivieren.


Welche Atemtechniken sind besonders geeignet zur Stärkung?

Atemtechniken, Pranayama, bedeuten das Festhalten von Prana, der Lebenskraft. Sie bilden eine ganz zentrale Stärkungstechnik. Auch hier ist es individuell verschieden und hängt von der Ursächlichkeit ab. Ausgleichende, eher ruhige Techniken, wie z.B. die Wechselatmung, können kombiniert werden mit der Vorstellung, dass man bei der Einatmung Prana aufnimmt und beim Ausatmen alles Belastende loslässt. Wenn ein Patient beispielsweise sehr sorgenvoll ist, würden wir Atemtechniken wie Bhramari, die Hummelatmung, einsetzen, sodass er nebenbei keinen „Platz“ zum Nachdenken hat.


Welche Rolle spielt Meditation?

Meditative Elemente sind ganz wichtig. Es gibt inzwischen viele Studien, die nachweisen, dass sich durch Meditation z.B. die Entzündungsaktivität reduziert oder die Telomerlänge zunimmt.


Die ayurvedische Medizin blickt auf Jahrtausende an Erfahrung zurück. Wie ist die Situation in der Forschung?

Es gibt sehr viel Forschung. Inzwischen existiert auch eine eigene Forschungsdatenbank: dharaonline.org. Im Moment stehen dort ca. 9000 Veröffentlichungen. In anderen Datenbanken wie PubMed kommen jährlich ca. 400 Veröffentlichungen dazu. Zu „ayurveda“ und „cancer“ sind es ca. 40–60 Arbeiten pro Jahr.


Welche Themen finden sich unter den Arbeiten?

Es liegen viele Arbeiten vor, die beispielsweise die antitumorösen Wirkungen ayurvedischer Phytotherapeutika erforschen, ihre Pharmakogenetik oder welche aktiven Substanzen enthalten sind. Die Erforschung der ayurvedischen Substanzen geschieht analog der modernen Krebstherapieforschung.

Ein weiterer Bereich ist die Überprüfung der Effizienz des ayurvedischen Systems bei bestimmten Erkrankungen im Systemvergleich. Dabei stehen nicht nur die Einzelsubstanzen im Fokus, sondern die Kombination aller Maßnahmen. Diese Methode spiegelt m.E. das therapeutische Vorgehen des Ayurveda besser wider.

Dann gibt es ein neues Projekt: sACRo – Series of Ayurveda Case Reports online. In diesem Projekt wird eine Online-Datenbank mit gut dokumentierten Einzelfallstudien aufgebaut.


Welche Studiendesigns werden in der Ayurveda-Forschung angewendet, auch v. a. randomisierte kontrollierte Studien (RCT)?

RCTs werden auch angewendet, sie sind allerdings nur bedingt sinnvoll. Wenn wir in diesem individualisierten System verblindet Krebspatienten z.B. Ashvagandha verabreichen und z.B. mit Vitamin C vergleichen, ist eben die Frage: War Ashvaghanda aus ayurvedischer Sicht überhaupt indiziert? Das lässt sich in diesem Setting nur sehr schwer beantworten. Und trotzdem zeigen Studien, die auf diese Weise vorgehen, dass ayurvedische Heilpflanzen auch in einem solchen Setting ein erstaunliches Potenzial aufweisen können.


Ich könnte mir vorstellen, dass auch die Finanzierung der Forschung schwierig ist?

Natürlich. Es ist auch eine Frage nach dem cui bono. Wenn keine Firmen dahinterstehen, bleibt das Problem der Finanzierung. Wir erhalten aus anderen Quellen kaum Forschungsmittel. 

Eine der Systemvergleichsstudien hat die ayurvedische Behandlung bei Arthrose mit der schulmedizinischen Behandlung verglichen. Finanziert wurde sie unter anderem von der indischen Regierung. Die Ergebnisse zeigten deutliche Vorteile einer ayurvedischen Behandlung. Eine andere Studie hat die (langfristige) Überlegenheit des Ayurveda bei Rheuma gezeigt. Es wäre wünschenswert, wenn wir für die Forschung mehr Mittel hätten.


Wenn wir noch einmal zur Onkologie zurückgehen, wo ist die ayurvedische Medizin der Schulmedizin unterlegen?

1. Die Diagnostik: Ich würde keinem Menschen empfehlen, bei einer Krebserkrankung ausschließlich eine ayurvedische Diagnostik durchführen zu lassen. Die Schulmedizin ist das beste System, um strukturelle Veränderungen festzustellen.

2. Die Therapie: Selbstverständlich empfehle ich allen Patienten zunächst eine schulmedizinische Behandlung. Bei den operativen Verfahren, der Strahlen- und Chemotherapie haben wir in der Schulmedizin eine sehr gute Datenlage mit evidenzbasierten Daten.


Und in welchen Bereichen der onkologischen Therapie hat der Ayurveda seine Stärken?

Die ayurvedische Medizin hat ihre Stärken, wenn es darum geht, den Organismus aufzubauen, zu nähren, den Stoffwechsel zu fördern und energetisch wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Ebenso in der Tumorpsychologie: Durch die ganzheitliche Sichtweise des Ayurveda werden die Zusammenhänge zwischen dem Denken und der Tumorentstehung viel mehr berücksichtigt als in der konventionellen Medizin, und es gibt dementsprechend zahlreiche Optionen, dies therapeutisch einzubeziehen. Und wir haben mehr Möglichkeiten, den Patienten an der Therapie aktiv zu beteiligen.

Die Schulmedizin und die ayurvedische Medizin bilden zwei Medizinsysteme, die aus meiner Sicht überhaupt nicht in Konkurrenz stehen, sondern jeweils eigene Stärken haben. Warum sollten wir beides nicht kombinieren?

Das Gespräch führte Anke Niklas.


Das Interview ist erschienen in der EHK 5/2020.

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Dr. med. Hedwig Gupta ist Fachärztin für Orthopädie mit den Tätigkeitsschwerpunkten Ayurvedamedizin und Therapeutischer Yoga. Sie ist Mitbegründerin der Deutschen Ärztegesellschaft für Ayurveda und der Deutschen Gesellschaft für Yogatherapie. Im Verlag für vedische Wissenschaften publiziert sie Bücher für interessierte Laien, Ärzte und Therapeuten.

www.vidya-sagar.de

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