EpigenetikDer lange Arm der Kindheit

Kinder aus finanziell ärmeren Familien weisen epigenetische Profile auf, die mit einer schlechteren Gesundheit in Verbindung stehen.

Kleinkind sitzt auf einem Baumstamm
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Das sozioökonomische Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, wirkt sich auf das epigenetische Profil aus.

Wie wirkt sich das Umfeld in der Kindheit auf Gesundheit und Wohlbefinden im Erwachsenenalter aus? Und was können epigentische Profile bei Kindern für das spätere Erwachsenenalter aussagen? Um das herauszufinden unterschten Forschende die epigenetischen Profile von Kindern [1].

Theorie: Der lange Arm der Kindheit

Kinder, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, sind in der Regel mit ungünstigeren Umweltbedingungen konfrontiert. Das betrifft z.B. einen eingeschränkten Zugang zu hochwertiger Ernährung, Grünflächen und Gesundheitsversorgung. Diese Kinder haben ein erhöhtes Risiko für einen hohen Body-Mass-Index (BMI), Fettleibigkeit und andere Krankheiten im Erwachsenenalter. Der „lange Arm der Kindheit“ ist ein Phänomen, das die anhaltenden Auswirkungen des Umfelds und der Entwicklung in der Kindheit auf die Gesundheit und das Wohlbefinden von Erwachsenen beschreibt.

„Die Theorie beschreibt, dass unsere Kindheit zu einem gewissem Maße prägend für das ganze Leben ist", sagt Dr. Laurel Raffington, die die Studie zusammen mit Forschenden der University of Texas in Austin, der University of Michigan und der Princeton University durchgeführt hat. „Es ist jedoch schwierig, den langen Arm der Kindheit zu untersuchen, da es Jahrzehnte dauern kann, bis sich die Auswirkungen des kindlichen Umfelds auf die Gesundheit und das Wohlbefinden im Erwachsenenalter bemerkbar machen.“

Für ihre Studie verwendeten die Forscher*innen Algorithmen zur Berechnung des epigenetischen BMI, die ursprünglich für Erwachsene entwickelt wurden. Mit diesen Algorithmen wurden epigenetische Unterschiede im gesamten Genom zu epigenetischen Profilscores zusammengefasst. Sie stellten fest:

Kinder aus einem sozioökonomisch benachteiligten Umfeld wiesen ein epigenetisches Profil auf, das in früheren Studien an Erwachsenen mit einer schlechteren Gesundheit in Verbindung gebracht wurde.

Epigenetischer BMI und tatsächlicher BMI

Epigenetische Profile, die Gene ein- oder ausschalten, können sich im Laufe der Entwicklung von Kindern verändern und durch nachteilige Umwelteinflüsse negativ beeinflusst werden. Dieser epigenetische Profilscore wurde ursprünglich für Erwachsene entwickelt, um deren Body-Mass-Index (BMI) vorherzusagen; daher wird er als epigenetischer BMI bezeichnet. Es wurde festgestellt, dass der epigenetische BMI die Gesundheit und Sterblichkeit von Erwachsenen über den tatsächlichen BMI hinaus vorhersagt.

Die Algorithmen wurden für mehr als 3200 8- bis 18-Jährige aus zwei US-Studien angewendet. Anders als in Studien bei Erwachsenen, bei denen üblicherweise Blut abgenommen wird, berechneten sie den epigenetischen BMI anhand des Speichels von Kindern. Dieser lässt sich weniger invasiv und leichter erfassen. Da sich epigenetische Veränderungen je nach Zelltyp unterscheiden, war zunächst nicht klar, ob der epigenetische BMI ein gültiges Maß sein würde, wenn er aus dem Speichel anstatt Blut berechnet wird.

Ergebnisse der Studie

  • Der epigenetische BMI der Kinder war stark mit ihrem tatsächlichen BMI verbunden.

Beispielsweise sagte der epigenetische BMI, der im Alter von 9 Jahren gemessen wurde, den BMI voraus, der bei einer erneuten Messung im Alter von 15 Jahren ermittelt wurde. Der epigenetische BMI stand sogar mit Unterschieden im BMI zwischen eineiigen Zwillingen in Zusammenhang.

„Längsschnitt- und Zwillingsanalysen sind sehr strikte Tests für die Sensitivität von Biomarkern. ... Der epigenetische BMI ist ein valides Maß für den BMI, selbst wenn er im Speichel von Kindern gemessen wird“, sagt Prof. Daniel A. Notterman von der Princeton University.

  • Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen wiesen einen höheren epigenetischen BMI auf, selbst wenn der tatsächliche BMI, die pubertäre Entwicklung und die Tabakexposition berücksichtigt wurden.

Da die epigenetischen Messwerte anhand von Algorithmen berechnet wurden, die bei Erwachsenen entwickelt wurden, deutet dies auf einen molekularen Zusammenhang zwischen dem kindlichen Umfeld und der Gesundheit im Erwachsenenalter hin.

Der sozioökonomische Status bei der Geburt steht am stärksten mit dem epigenetischen BMI in Verbindung, der im Jugendalter relativ stabil bleibt. Dies könnte darauf hindeuten, dass sehr frühe Umweltunterschiede entscheidenden Einfluss auf die lebenslangen epigenetischen Profile der Gesundheit haben. Frühere Umweltunterschiede hängen u.a. mit sozialer Ungleichheit sowie mit (pränatalen) Unterschieden zwischen eineiigen Zwillingen zusammen.

Vorangegangene Untersuchungen

Kürzlich veröffentlichte Studien hatten ergeben, dass Kinder, die in sozial benachteiligten Familien aufwachsen, tendenziell epigenetische Profile aufweisen, die verbunden sind mit

  • schnellerer biologischer Alterung und
  • schlechterer kognitiver Gesundheit im Erwachsenenalter [2].

In der Studie wurde ein ähnliches Verfahren angewendet.

Eine weitere Studie der Forschenden [3] deutet darauf hin, dass diese Ergebnisse vermutlich auf Deutschland übertragbar sind. Allerdings sind die Möglichkeiten einer Verallgemeinerung auf andere Länder und Kontexte noch nicht vollends bekannt.

Die aktuelle Studie baut auf früheren Arbeiten auf, die zeigen, dass epigenetische Messwerte eine molekulare „Brücke“ zwischen Kindheit und Erwachsenenalter darstellen können.

Für künftige Studien zu Auswirkungen der Sozialpolitik in der Kindheit könnte es wertvoll sein, die Ergebnisse epigenetischer Scores mit einzubeziehen. Damit könne untersucht werden, ob sich sozialpolitische Maßnahmen positiv auf die Gesundheit auswirken.

Raffington arbeitet mit der Babies First Years Study zusammen. Bei dieser randomisierten und kontrollierten Studie erhalten Mütter in den ersten Lebensjahren ihres Babys monatliche Geldgeschenke. Es wird nun untersucht, ob der Erhalt dieser Geldgeschenke in der frühen Kindheit die epigenetischen Profile von Gesundheit und Wohlbefinden der Kinder verbessert.

Quelle: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Literatur

[1] Raffington L, Schneper L, Mallard T et al. Salivary epigenetic measures of body mass index and social determinants of health across childhood and adolescence. JAMA Pediatrics 2023; https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2023.3017

[2] Raffington L, Tanksley PT, Sabhlok A et al. Socially stratified epigenetic profiles are associated with cognitive functioning in children and adolescents. Psychological Science 2023; https://doi.org/10.1177/09567976221122760

[3] Raffington L, Schwaba T, Aikins M et al. Associations of socioeconomic disparities with buccal DNA-methylation measures of biological aging. Clinical Epigenetics 2023; https://doi.org/10.1186/s13148-023-01489-7