Interview"Man muss einfach anfangen und immer dranbleiben"

Die Allgemeinmedizin ist ein sehr breites, anspruchsvolles Fach und bedeutet, Generalist*in als Gegenpol zu Expert*innen zu sein. Ein Gespräch mit Prof. Stefanie Joos.

Nahaufnahme: Akupunkturnadeln auf Lavastein
Sonja Birkelbach/stock.adobe.com

Am Institut für Allgemeinmedizin der Uni Tübingen wird u.a. zu Akupunktur und TCM geforscht.

Sie haben sich schon früh in Ihrer ärztlichen Laufbahn mit Komplementärmedizin beschäftigt. Was hat Sie dahingeführt?

Mich hat schon immer die Forschung fasziniert. Als ich mit dem Medizinstudium begann, wollte ich mich mit Menschen beschäftigen. Das Interesse an Komplementärmedizin kam parallel. Ich habe in den 1990er-Jahren studiert und immer mal wieder über diese Methoden etwas gehört, über Akupunktur oder Homöopathie. Es hat mich fasziniert und ich versuchte schon im Studium, so viel wie möglich darüber zu lernen.
Dann stand für mich fest, dass ich mein Forschungsinteresse mit meiner Faszination an komplementärmedizinischen Methoden verbinden möchte. Der Weg war dann nicht mehr weit. Für meine Doktorarbeit und später auch für meine Habilitationsarbeit habe ich mir dann ein Thema zur Komplementärmedizin gesucht.

Wie war damals die Situation in Bezug auf die Komplementärmedizin?

Aus meiner Erfahrung gibt es immer wieder verschiedene Phasen. Und es hängt auch davon davon ab, wer gerade Meinungsführer ist. Ich hatte das Glück, dass der ärztliche Direktor am Universitätsklinikum Heidelberg, ein Anästhesist, sich selbst für diese Methoden interessierte, besonders für die Traditionelle Chinesische Medizin. In kleinem Umfang wurde sie auch ergänzend in seiner Schmerzambulanz eingesetzt. Dort konnte ich zu diesem Thema promovieren.

Als Student*in ist man ja noch nicht so sozialisiert im Medizinsystem und auch freier in der Beurteilung.

Seit 2015 sind Sie Inhaberin des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin in Tübingen. Sie haben äußerst vielfältige Forschungsgebiete. Was war Ihre Vision für die Allgemeinmedizin, als Sie anfingen in Tübingen?

Ja, wir sind breit aufgestellt in der Forschung. Aber letztlich bildet das die Realität in der Allgemeinmedizin ab: Als Hausärzt*in ist man für jeden quer durch alle Gesellschaftsschichten durch die Erkrankung verantwortlich. Das war und ist meine Vision. Ich bin mit Leib und Seele Hausärztin und liebe dieses Fach, weil es diese Breite hat und damit anspruchsvoll ist. Leider wird das in der Gesellschaft nur zum Teil so gesehen, weil wir eine Gesellschaft von Expert*innen sind. Ich habe öfter den Eindruck, dass mit der Wertschätzung für das Expertentum der Blick für die Breite verloren geht.

Meine Vision ist, zu zeigen, was für ein tolles und anspruchsvolles Fach die Allgemeinmedizin ist: für die Studierenden, aber auch für die Patient*innen und die Öffentlichkeit. Zu zeigen, welche Herausforderungen damit verbunden sind, ein guter Generalist zu sein als Gegenpool zu den Expert*innen. Es braucht beides zusammen für ein gutes Versorgungssystem.

Wie sind Forschung und Ausbildung zur Komplementärmedizin bei Ihnen am Lehrstuhl integriert? War sie von Beginn an integriert?

Vor meiner Zeit in Tübingen habe ich am Uniklinikum Heidelberg den Querschnittsbereich 12 aufgebaut. Dieser Querschnittsbereich ist seit 2003 im Medizinstudium kurrikular verankert und beinhaltet physikalische Therapie, Rehabilitation, Naturheilkunde. Es ist nicht vorgegeben, welche Methoden der Naturheilkunde gelehrt werden sollen, nur dass sie gelehrt und geprüft werden sollen.

Das Konzept aus Heidelberg mit Vorlesungen und Praktika habe ich quasi mit nach Tübingen genommen. Am Anfang gab es nur eine Vorlesung. Jetzt haben wir eine ganze Vorlesungswoche daraus gemacht und zusätzlich zum Querschnittsbereich 12 ein neues Wahlfach zur komplementären und integrativen Medizin etabliert.

Wie ist der Querschnittsbereich 12 an anderen deutschen Unis vertreten?

In Deutschland gibt es 37 medizinische Fakultäten. Wir haben immer mal wieder Umfragen mit den Kolleg*innen zum Querschnittsbereich 12 gemacht. Er müsste demnach an jedem Standort vorhanden sein. Es gibt Standorte, an denen der Bereich sehr rudimentär bis gar nicht gelebt wird, an anderen Standorten werden tatsächlich eine Woche Vorlesungen und Praktika angeboten.

Welche Schwerpunkte setzen Sie in der Forschung am Institut in Tübingen?

Durch meine eigenen Qualifikationen und mein Interesse sind die Chinesische Medizin und Akupunktur ein Schwerpunkt. Diesem Verfahren widmen wir uns in der Versorgung, in der am Institut angegliederten Ambulanz und in der Forschung am meisten. In der Lehre decken wir alles ab. Wir arbeiten auch sehr eng mit der Pflegewissenschaft zusammen und forschen zu nichtmedikamentösen Verfahren.

Eine weitere große Säule sind Themen, bei denen es um Aspekte des Selbstmanagements geht, also Empowerment und Verbesserung der Gesundheitskompetenz bei Patient*innen. Das umfasst z.B., Patient*innen zu befähigen, aromatherapeutische Wickel anzulegen, bis hin zu Bewegung und Ernährung.

In der Institutsambulanz bieten Sie ausschließlich Akupunktur und Chinesische Medizin an. Warum haben Sie sich für diese Verfahren entschieden?

In diesem Bereich sind wir am besten qualifiziert. Ich selbst habe die Zusatzqualifikation, und mein oberärztlicher Kollege Dr. med. Jan Valentini, der die Ambulanz hauptverantwortlich leitet, ist in der TCM sehr breit aufgestellt.

Wir planen, das Angebot zu erweitern und Beratungen für onkologische Patient*innen zu naturheilkundlichen Verfahren anzubieten. Das Thema haben wir aktuell in einer Studie untersucht und wollen es nun im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, zunächst in Kooperation mit der AOK, die auch unser Partner im Projekt war, verstetigen.

Wie ist die Auslastung der Ambulanz und wer trägt die Kosten für die Behandlung?

Wir haben mehrere Wochen Wartezeit. Viele Patient*innen kommen von selbst oder sie erhalten Hinweise von Kolleg*innen in der Klinik. Ein formelles Überweisungsverfahren gibt es nicht. Leider haben wir nicht ausreichend Ressourcen, um die Wartezeit zu verkürzen.

Die Behandlung im Rahmen der Chinesischen Medizin ist momentan Selbstzahlerleistung oder für Privatpatient*innen. Unsere Vision ist, diese Leistungen auch in die gesetzliche Krankenversicherung zu bringen. Leider sind diese Prozesse schwierig und langwierig: einerseits die Evidenz zu generieren und andererseits sie dann in den Leistungskatalog der GKV zu bringen.

Insofern sind wir froh, dass wir bei den onkologischen Beratungen zunächst mit der AOK auf einem guten Weg sind. Meine Erfahrung ist: Man muss einfach anfangen und immer dranbleiben.

Welchen Stellenwert haben komplementäre Verfahren in der Allgemeinmedizin?

Ich denke, insgesamt einen sehr hohen. Vor gut 10 Jahren habe ich dazu eine Umfrage gemacht. Wir haben ja einerseits die Zusatzbezeichnung als Indikator, woran man sieht, wie viele Zusatzbezeichnungen aus dem komplementärmedizinischen Bereich die Kolleg*innen in der Praxis haben. Die Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren, manuelle Medizin und Akupunktur sind stetig angestiegen.

Und wir wissen auch, dass viele Kolleg*innen, ohne dass sie eine Zusatzbezeichnung haben, die Methoden anwenden. Um beispielsweise ein pflanzliches Präparat einem Patienten zu verordnen oder zu empfehlen, dazu braucht man nicht unbedingt eine Zusatzbezeichnung. Deshalb haben wir die Umfrage gemacht. Die Frage, ob die Kolleg*innen komplementäre und alternative Medizin nutzen, haben 60 % mit ja beantwortet. Das am häufigsten angewendete Verfahren war das Quaddeln, also das Spritzen von Lokalanästhetika, genau genommen die erste Stufe der Neuraltherapie.

Ich denke, insgesamt bedienen sich viele aus dem Portfolio der Komplementärmedizin, manchmal ohne zu wissen, dass es dem Bereich zugeordnet werden kann, wobei wir ja keine feste Definition haben.

 

Etwa 60 Prozent der Allgemeinmediziner*innen nutzen komplementäre und alternative Medizin.

Prof. Dr. med. Stefanie Joos ist Fachärztin für Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen Naturheilverfahren und Akupunktur. Nach Station am Universitätsklinikum Heidelberg folgte sie 2015 dem Ruf der Universität Tübingen auf den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. Zu ihren Schwerpunkten zählen u.a. Ausbildungs- und Weiterbildungsforschung, Interprofessionelle Zusammenarbeit und Komplementärmedizin.

Sie promovierte mit einer Arbeit zum Thema Akupunktur bei Asthma und habilitierte sich zum Stellenwert der Komplementärmedizin in der Primärversorgung. Warum es sich lohnt, Komplementärmedizin in die Allgemeinpraxis zu integrieren, erzählt Joos im Interview.

 

Was würden Sie sagen, wie groß ist der Forschungsbedarf zu komplementären Verfahren in der Allgemeinmedizin?

Es gibt in der Allgemeinmedizin ja keine anderen Erkrankungen oder andere Therapieverfahren im Vergleich zu anderen ärztlichen Disziplinen. Wir kümmern uns um Erkrankungen, die häufig und relevant sind. Daher haben wir es mit zwei sehr großen Feldern zu tun, die aufeinandertreffen: einerseits die Allgemeinmedizin mit allen möglichen Beratungsanlässen, die man sich vorstellen kann. Und andererseits mit dem ganzen Portfolio der komplementären und integrativen Verfahren.

Die Frage ist eher: Warum entscheidet man sich jetzt für welches Therapieverfahren? Also, der Forschungsbedarf ist immens.

Machen wir es ein bisschen konkreter: Post Covid beschäftigt gerade viele Allgemeinpraxen. Sie forschen aktuell an einem Projekt dazu: PreVitaCOV. Darin vergleichen Sie die Gabe von B-Vitaminen mit Cortison. Wie ist es dazu gekommen?

Bei Post Covid stehen wir einer Erkrankung gegenüber, für die es noch keinen therapeutischen Ansatz gibt. Wir haben Befragungen durchgeführt, was Post-Covid-Betroffene in den ersten Monaten gemacht haben. Viele probierten Dinge aus, die sie irgendwo gehört haben.

Einige Kolleg*innen in den Hausarztpraxen wendeten Cortison an, vor dem Hintergrund, dass autoimmunologische Prozesse ablaufen, die man durch die immunmodulierende Wirkung von Cortison stoppen könnte. Und wir haben beobachtet, dass viele Menschen Vitaminpräparate und Nahrungsergänzungsmittel eingenommen haben.

Uns interessierten insbesondere die B-Vitamine, weil wir beim Post-Covid-Syndrom oft neurologische Beschwerden sehen wie Konzentrationsstörungen, Fatigue, Merkfähigkeitseinschränkungen. B-Vitamine sind u.a. notwendig für das Nervensystem, besonders für die Konzentrationsfähigkeit.

So wurde die Idee geboren, in einer Medikamentenstudie diese Ansätze miteinander zu vergleichen. Beide Stoffe werden in der Hausarztpraxis oft eingesetzt. Leider dauert es allerdings in Deutschland sehr lange, bis alle behördlichen Anträge genehmigt sind. Daher konnten wir gerade auch erst mit der Studie starten.

Sie forschen am Institut auch zur Nachsorge onkologischer Patient*innen in der Allgemeinpraxis. Welche Highlights gibt es in diesem Bereich?

In Heidelberg führten wir vor einigen Jahren gemeinsam mit der Pflegewissenschaft die CONGO-Studie durch: komplementärmedizinische Pflegemaßnahmen in der gynäkologischen Onkologie. Darauf aufbauend hat sich ein großes vom Innovationsfonds gefördertes Projekt angeschlossen: CCC Integrativ – Beratung zu Komplementärer Medizin und Pflege bei Krebserkrankungen.

Ziel war, ein evidenzbasiertes interprofessionelles Beratungsangebot für Patient*innen mit einer Krebserkrankung zu entwickeln. Insbesondere wenn die Erkrankung neu diagnostiziert wurde, eine Chemo- oder Strahlentherapie dazukommt, sind viele Patient*innen extrem verunsichert und haben viele Fragen aus dem komplementärmedizinischen Bereich. Das beginnt bei speziellen Diäten, geht über lange Listen an Nahrungsergänzungsmitteln und nicht zuletzt kommt oft die Frage, was sie selbst tun können.

Ziel ist, Patient*innen evidenzbasiert zu komplementärmedizinischen Maßnahmen zu beraten, z.B.: Welche Phytotherapeutika interagieren nicht mit einer Chemotherapie? Welche Nebenwirkungen einer Chemo kann man mit einfachen Mitteln der Naturheilkunde lindern? Mit welchen naturheilkundlichen Methoden können Patient*innen belastende Nebenwirkungen wie Übelkeit oder Schleimhautbeschwerden selbst in den Griff bekommen?

Das Beratungsangebot wurde bisher an vier universitären onkologischen Zentren (CCCs) in Baden-Württemberg evaluiert und befindet sich derzeit in der Analyse. Ich denke, die Ergebnisse werden 2023 vorliegen.

Gibt es Daten, wie oft onkologische Patient*innen komplementäre Verfahren anwenden?

Dazu gibt es sehr viele Daten. Wie oft komplementäre Verfahren in Anspruch genommen werden, hängt auch von der Entität ab. Brustkrebspatientinnen beispielsweise wenden am häufigsten Naturheilkunde an, je nach Studie bis zu 80 Prozent. Wir wissen auch, dass Frauen eher Naturheilkunde anwenden als Männer. Bei Prostatakrebs liegen die Raten niedriger, bei etwa 30–40 Prozent.

Was, würden Sie sagen, sind Highlights Ihrer bisherigen Forschung?

Das ist schwierig zu sagen. Meine älteren Forschungsprojekte zu Akupunktur bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen waren ein wichtiger Meilenstein. Nicht nur für mich, sondern die Ergebnisse haben es auch in die entsprechende Leitlinie geschafft.

Bei den aktuellen Beratungsprojekten haben speziell naturheilkundlich ausgebildete Pflegekräfte und Ärzt*innen eng zusammengearbeitet, d.h. die Patient*innen gemeinsam erstberaten. Diese Zusammenarbeit und das Voneinanderlernen sind ebenfalls Highlights meiner Forschung. Die Zusammenarbeit unter den Professionen müssen wir in der Versorgung noch viel besser nutzen.

Eine weitere Sache, die mir wirklich viel Freude macht, ist, wenn ich merke, dass die beiden Strömungen – die naturheilkundlichen Verfahren und die Allgemeinmedizin – zusammenfließen. In diesen Situationen sehe ich: Es lohnt sich.

 

Die Zusammenarbeit unter den Professionen müssen wir in der Versorgung noch viel besser nutzen.

 

Welches Potenzial sehen Sie noch, das in der Versorgung gehoben werden kann?

Dazu ein Beispiel: 2023 starten wir eine Studie mit übergewichtigen und adipösen Patient*innen, in der wir die Erfolge des intermittierenden Fastens im Setting der Hausarztpraxis überprüfen möchten. Zunächst werden die Hausärzt*innen zum intermittierenden Fasten geschult, um es dann an ihre Patient*innen weiterzugeben.

In unserem Versorgungssystem sehen wir oft das Problem, dass es uns nicht gelingt, gute, wirksame Methoden in die Breite zu bringen. Die Methoden werden an Universitätskliniken in Leuchtturmprojekten erprobt, aber kommen nicht in die Breitenversorgung. Das ist eine der Herausforderungen, die ich für die allgemeinmedizinische Forschung sehe.

Wie schätzen Sie die aktuelle Forschungslandschaft zur Komplementärmedizin in Deutschland ein?

Wenn wir Deutschland mit anderen Ländern vergleichen, existiert in den meisten Ländern eine nationale Strategie für komplementärmedizinische Forschung oder ein nationales Komitee. In den USA beispielsweise gibt es ein sehr reges nationales Zentrum, und es fließt viel Geld in hochklassige Forschung. In anderen Ländern, v.a. in Schwellenländern, hat die traditionelle Medizin einen viel stärkeren Versorgungsauftrag und steht deshalb mehr im Fokus.

In Deutschland gibt es weder eine nationale Strategie noch ein nationales Komitee für komplementärmedizinische Forschung. Obwohl das WHO-Strategiepapier (WHO Traditional Medicine Strategy 2014–2023) auch von Deutschland unterzeichnet wurde. In Deutschland haben wir zwar einige Professuren, die sind aber zum allergrößten Teil stiftungsfinanziert. Also, es ist keinesfalls ausreichend.

Ist die Situation in Baden-Württemberg besser als in anderen Regionen Deutschlands?

Ich denke, Baden-Württemberg hat sich in den letzten Jahren dieses Feld wirklich angesehen und Forschungsverbünde und kleinere Projekte gefördert, auch wenn keine Unsummen geflossen sind.

Zum Beispiel hat sich daraus der Forschungsverbund AZKIM (Akademisches Zentrum für Komplementäre und Integrative Medizin) gegründet. Das Besondere daran ist, dass die verschiedenen Richtungen der Forschung zusammengebracht wurden, d.h. Grundlagen-, klinische und Versorgungsforschung, um durch den Austausch einen Mehrwert zu schaffen.

Dann wurde das Projekt KIG BaWü gefördert, ein Netzwerk aus Kliniken, ambulanten Netzen und wissenschaftlichen Instituten, die integrative Behandlungskonzepte entwickeln und evaluieren.

Und nicht zuletzt wurde 2022 die W3-Professur für die Erforschung komplementärer Verfahren in Tübingen besetzt. Sie wird zwar in den ersten 5 Jahren von der Robert-Bosch-Stiftung finanziert, im Anschluss wird aber das Land die Weiterfinanzierung übernehmen.

Gibt es denn genügend Nachwuchs für die Forschung?

Wir haben aktuell in allen Bereichen nicht genug Nachwuchs, weder in der Versorgung noch in der Forschung. Aber wir konnten über die letzten Jahre beobachten, dass unser Wahlfach für komplementäre und Integrative Medizin immer voll besetzt ist und es einen festen Kern an Studierenden gibt, die sich für das Thema interessieren. Mittlerweile können sie auch bei uns promovieren, aber schon jetzt ist das Interesse größer als unsere Kapazitäten.

Ich könnte mir im nächsten Schritt zum Beispiel eine Promotions- oder Graduiertenakademie vorstellen, in der mit einer entsprechenden Förderung oder mit Stipendien die wissenschaftliche Nachwuchsqualifizierung unterstützt und begleitet wird.

Die neue W3-Professur für die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren ist bei Ihnen am Lehrstuhl angedockt. Welche Schwerpunkte setzt die neue Professur?

Prof. Holger Cramer ist seit August 2022 bei uns am Institut und am Robert-Bosch-Health-Campus Stuttgart angedockt. Er bringt sehr viel Forschungserfahrung aus Essen mit, wo er vorher tätig war. Cramer hat seinen Schwerpunkt in der Mind-Body-Medizin, also Verfahren wie Yoga, die Geist und Körper verbinden. Methodisch hat er einen Schwerpunkt bei Metaanalysen, das heißt, er hat Studien zusammengeführt und daraus Empfehlungen abgeleitet. Aktuell plant Prof. Cramer eine Studie zu Mind-Body-Verfahren für Post-Covid-Patient*innen.

Die Professur war seit 2016 geplant. Warum hat es so lang gedauert, bis sie besetzt wurde?

Von der Entscheidung für die Professur bis zur Umsetzung sind ein paar Jahre die Normalität. Hier war eine Professur in einem ganz neuen Bereich geplant, da hat es nochmal länger gedauert. Hinzu kamen noch die Verzögerungen durch Corona. Wir sind sehr froh, dass wir in Tübingen den Zuschlag bekommen haben, wo wir schon einen großen Forschungsbereich haben und Synergien schaffen können.

Was würden Sie jungen Kolleg*innen empfehlen, was macht den Beruf des integrativ arbeitenden Allgemeinarztes reizvoll?

Ich glaube, das Reizvolle ist tatsächlich der Abwechslungsreichtum. Man hat die ganze Breite der Versorgung, der Erkrankungen, der Gesellschaft quer durch alle Altersgruppen und auf der anderen Seite die Möglichkeit, sich aus vielen Verfahren bedienen und dabei selbst Hand anlegen zu können.

Man hat extrem viele Entfaltungsmöglichkeiten, muss aber auch mal eine diagnostische Unsicherheit aushalten können, gut strukturiert und organisiert sein.

Komplementäre Verfahren wie Akupunktur oder manuelle Medizin bringen einem als Arzt oder Ärztin wirklich das Gefühl, wirken zu können. Es bedeutet, viele Handlungsmöglichkeiten zu haben, und das bringt eine enorme Zufriedenheit bei der Arbeit.

Das Interview führte Anke Niklas.