Mental HealthErste Hilfe für die Seele

Es gibt viele Gründe, weshalb Menschen Werkzeuge zur Krisenbewältigung brauchen. Diese Übungen tun Geist und Seele gut. 

K. Oborny/Thieme

Sie merken, dass Sie an Ihre Belastungsgrenze kommen? Die folgenden Übungen helfen dabei, wieder ins Gleichgewicht zu kommen.

von Birgit Jakobs

Durch Atmung beruhigen

Unsere Atmung

Die Atmung ist der gemeinsame Nenner über all die zur Verfügung stehenden Techniken. Sicher haben Sie schon mal von folgenden Techniken gehört:

  • Achtsamkeitsübungen, Meditation und Yoga sind Techniken, die heutzutage von vielen praktiziert oder zumindest mal ausprobiert werden.
  • Autogenes Training (AT) und Progressive Muskelentspannung PMR (R = Relaxation, Englisch für Entspannung) sind Techniken, die in vielen psychosomatischen Krankenhäusern und Reha-Kliniken gelehrt werden.
  • Qi Gong und TaiChi sind Trainingsmethoden, die ebenfalls häufig angeboten werden.
  • Shiatsu und Japanisches Heilströmen JSJ (Jin Shin Jyutsu) sind etwas weniger stark verbreitete Verfahren.

Gut ist, dass man hier ganz langsam anfangen kann. Wir haben fast alle Schwierigkeiten mit der Atmung, atmen zu flach, zu oberflächlich, zu ineffektiv, und es ist ein guter Anfang, mal einen bewussten, tiefen Atemzug zu nehmen. Erstaunlich, dass bereits ein Atemzug eine Veränderung bringen kann.

Atmung bringt Ruhe und Entspannung, und zwar direkt, unmittelbar. Diese Übungen können Sie sofort ausprobieren:

  • Stellen Sie sich stabil und aufrecht hin und schließen Sie die Augen.
  • Nehmen Sie wahr, dass Sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen und von diesem gehalten werden.
  • Lassen Sie die Arme locker von den Schultern runterhängen und nehmen Sie bewusst einen tiefen Atemzug durch die Nase.
  • Spüren Sie nun in sich hinein. Wir fühlen Sie sich? Merken Sie, wie Sie ruhiger werden, wie Sie Ihren Körper bewusster wahrnehmen?

Diese erste Übung dauert nur knappe zehn Sekunden – ist das nicht faszinierend? Wenn wir das sechs Mal am Tag machen, dauert es genau 6 × 10 Sekunden, also eine Minute – das ist nur 1/1460 des Tages, also ein verschwindend geringer Zeitanteil. Tatsächlich kann dies aber bereits unmerklich unser Leben verändern, weil Ruhe in uns einströmt, selbst durch diesen einen, tiefen Atemzug. Wir können es natürlich auch länger machen, wenn wir wollen.

Das Entscheidende hier ist die Erkenntnis, dass bereits durch klitzekleine Veränderungen in unserem (wenn man so will, Selbstfürsorge-)Verhalten große Veränderungen in uns erzeugt werden können. Wir kommen näher zu uns, in unsere Kraft.

Alle Angstpatient*innen, mit denen ich bisher gearbeitet habe, haben flach, oberflächlich und ineffektiv geatmet. Die Atmung ist hier der Schlüssel zur Entspannung, also zum Lösen der Spannung, die wir mehr oder weniger unbewusst aufbauen, um Bedrohungen, Anforderungen oder Druck abzuwehren – aber zu viel Anspannung schwächt uns, macht uns anfällig und schließlich unbeweglich und starr.

Welchen Weg wir wählen, um die Atmung zu vertiefen, ist aus meiner Sicht relativ gleichgültig – Hauptsache, wir finden etwas, das zu uns passt. Einer meiner ersten Patienten konnte sich sehr effektiv mit Autogenem Training beruhigen, wenn er nicht schlafen konnte. Er hatte es während eines Klinikaufenthalts gelernt und immer wieder nutzen können, wenn er es brauchte. Manche meditieren, machen Yoga, Qi Gong – allein selig machend ist keine dieser Methoden, aber sie alle können sehr hilfreich dabei sein, unseren sog. "Resilienzmuskel" zu trainieren, in unsere seelische ›Haben‹-Seite einzuzahlen, uns von innen heraus zu stärken. Resilienz ist ein anderer Begriff für seelische Widerstandkraft bzw. die Fähigkeit, mit widrigen Lebensumständen zurechtzukommen.

Long story short

  • Die Fähigkeit zur Selbstberuhigung (Affektregulation) ist eines der wichtigsten Dinge, die wir lernen können und wird häufig unterschätzt.

  • Die Atmung ist der Schlüssel zur Selbstberuhigung und Entspannung.

  • Wir können ganz leicht anfangen, indem wir jeden Tag 6-mal einen bewussten Atemzug nehmen – eine Minute, 1/1460 des Tages, durch die sich unser Leben verändern kann.

Can-do list

  • Geben Sie der Idee eine Chance – die Hemmschwelle ist nicht hoch. Was passiert, wenn Sie es einen Tag lang machen? Drei Tage? Eine Woche?
  • Haben Sie schon einmal eine der oben erwähnten Techniken ausprobiert? Wenn ja, sind Sie dabeigeblieben? Wenn nein, denken Sie drüber nach, was Sie wieder davon abgebracht hat und überlegen Sie, ob Sie dem noch einmal eine Chance geben.
  • Unabhängig von Ihrem aktuellen Stand: Probieren Sie eine der erwähnten Methoden eine Woche lang aus und schauen Sie, inwieweit sich Ihr Zustand verändert. 

Kleine Rituale, große Wirkung

Kürzlich habe ich mir eine kleine gedankliche Eselsbrücke ausgedacht, aus dem allgemein bekannten Wissen heraus, dass uns das Ausführen von Handlungen stets leichter fällt, wenn es ritualisiert ist: Wir alle putzen uns vier Minuten am Tag die Zähne — nach dem Frühstück zwei Minuten, vor dem Schlafengehen zwei Minuten. Warum gelingt uns das? Ganz einfach: Wir denken nicht mehr drüber nach, sondern haben es als Routine etabliert. Man kann auch sagen, dass wir es ritualisiert haben.

Entscheidend ist also, dass wir nicht mehr darüber nachdenken, sondern es einfach machen. Das "Zu-viel-Nachdenken" ist der Feind des Etablierens neuer Gewohnheiten, das ist offensichtlich. Mein Vorschlag ist verlockend: Versuchen Sie, das bewusste Atmen zu ritualisieren: 2 × 2 Minuten ruhiges und bewusstes Atmen morgens und abends, jeweils nach (oder vor) dem Zähneputzen.

Hier kann Ihnen das Bild helfen, dass Sie im Kleinen Vorsorge treffen bzw. fürsorglich mit Ihrer Seele umgehen. Somit sorgen Sie dafür, dass Ihre Seele gesund bleibt und nicht kariös wird wie Ihre Zähne, wenn Sie sie nicht putzen.

Wenn Sie Ihre Seele schützen und stärken wollen, ist das ein guter Start, und wenn Sie mögen, können Sie schon heute damit anfangen. Ich bin zuversichtlich, dass sich bereits nach wenigen Tagen eine spürbare Veränderung einstellen wird, sich spätestens nach wenigen Wochen spür- und fühlbare Erfolge zeigen werden. Nach acht bis neun Wochen wird sich die Gewohnheit so fest eingespielt haben, dass Sie gar nicht mehr darüber nachzudenken brauchen. Sie haben sie ritualisiert.

Dies wird Kreise ziehen, wie bei einem Stein, den Sie in einen ruhigen See werfen. Sie werden mehr bei sich ankommen, ruhiger, stärker und kräftiger werden.

Rituale geben Sicherheit

Kleine Schritte sind sehr häufig der Schlüssel zum Weiterkommen. Am Anfang scheint alles so überwältigend viel zu sein, das "Sich-besser-Fühlen" kaum erreichbar. Man ist gefangen in den Klauen der Angst, der nahezu existenziellen Unsicherheit. Tatsächlich ist heute, jetzt, der erste Schritt möglich, der eine Veränderung bringen kann. Allein die Erfahrung, dass Sie einen klitzekleinen Schritt nach vorne tun können, ist schon der Durchbruch, da Sie sich bewegen und aus der Starre lösen. Die Schale bricht auf, Sie kommen raus aus der Blase bzw. dem Kraftfeld, das Sie runterzieht und festhält.

Auch andere Rituale können helfen. Fast jede*r macht irgendwelche Dinge auf dieser Ebene, die Sicherheit und Halt geben, oftmals auch, ohne sich das bewusst zu machen. Jeden Sonntag die beste Freundin anzurufen, nach dem nach Hause kommen eine Tasse Kaffee zu trinken, vor dem Schlafengehen zu lesen oder zu beten, zum Abendessen Kerzen anzuzünden, beim Besuch der Heimatstadt in das alte Lieblingsrestaurant zu gehen – das alles sind Rituale, die unserem Leben in gewisser Weise einen Rahmen geben.

Sie werden mit Sicherheit herausfinden, welche Rituale Sie verinnerlicht haben. Das bewusste Ausüben stärkt uns und gibt uns Kraft.

Long story short

  • Rituale geben uns Sicherheit, Halt und Struktur.
  • Jede*r verfügt über ein Repertoire an Ritualen – das bewusste Gestalten kann Ihnen in kleinen Schritten helfen, und zwar auf mehreren Ebenen.
  • Jeden Morgen und jeden Abend jeweils zwei Minuten bewusst zu atmen hilft unserer Seele dabei, gesund zu werden oder zu bleiben.

Can-do list

  • Geben Sie der Übung eine Chance und probieren Sie es aus. Es dauert nur 4 Minuten – morgens 2, abends 2.
  • Gehen Sie in sich und schreiben sich auf, welche Rituale Sie bereits ausüben.
  • Versuchen Sie zu erspüren, wie das bewusste Atmen Ihren Körper positiv verändert.

Auf den Körper hören

Lenken wir nun die Aufmerksamkeit auf den Körper. Wenn Sie z. B. durch bewusste Atmung spüren, dass Ihre Körperwahrnehmung sich verändert, Ihr Körpergefühl sich positiv beeinflussen lässt, entspricht dies zugleich der Aktivierung einer Ressource, einer Kraftquelle. Als Einstieg eignet sich folgende Übung:

  • Stellen Sie sich aufrecht hin und gehen Sie in Kontakt mit dem Gefühl, das Sie runterzieht, beispielsweise Trauer, Angst oder Wut.
  • Stellen Sie die Füße fest auf den Boden. Die Fußspitzen zeigen leicht nach außen, der Brustkorb hebt sich, strecken Sie ihn nach vorn und oben, die Schultern sind gerade und nach außen gerichtet. Allein schon durch diese Haltung werden Sie größer. Sie wachsen.
  • Heben Sie den Blick an und erweitern Sie den Horizont Ihrer visuellen Wahrnehmung. Gehen Sie nun in Kontakt mit dem Gefühl oder Aspekt, der Ihnen verloren ging und den Sie wieder zurückholen wollen, beispielsweise Kraft, Zuversicht, Vertrauen, Wärme, Liebe, Leichtigkeit oder Zufriedenheit.
  • Führen Sie Ihre rechte Hand in einem weiten Bogen zum Herzen und legen Sie sie sanft ab.
  • Treten Sie einen großen Schritt zurück, ganz bewusst. Merken Sie, dass Sie das ungute Kraftfeld verlassen und dass mit dieser Bewegung wieder ein Zugang entsteht zu dem, was Sie verloren glaubten? Was immer es ist, es kehrt zu Ihnen zurück.
  • Sprechen Sie den Namen oder die Bezeichnung dessen jetzt mit fester Stimme laut aus, beispielswiese »Vertrauen« oder »Freude«.
  • Spüren Sie, wie dieser Aspekt wieder in Ihr System Einzug hält. Sie können gerne die Augen schließen und den Blick nach innen richten. Vielleicht wird Ihnen warm ums Herz, oder Sie fühlen sich leichter, freier und zufriedener.
  • Dieses gute Gefühl können Sie verankern, indem Sie Daumen und Zeigefinger einer Hand zu einem festen Ring schließen. Wenn Sie zukünftig diese winzige Bewegung ausführen, werden Sie an das gute Gefühl erinnert. Wir nennen das Körpererinnerung.
  • Verabschieden Sie sich aus der Situation mit einer leichten Verbeugung und einem laut ausgesprochenen »Danke«. Lockern Sie abschließend den Körper und atmen Sie bewusst ein und aus.

Sie können die Körpererinnerung verstärken, indem Sie nach dieser Übung die Arme vor der Brust über Kreuz verschränken, die Daumen ineinander verhaken, die anderen Finger auf die Brust legen und sich dann im Sekundentakt abwechselnd auf die Brust klopfen. Sie werden merken, dass sich das Gefühl intensiviert und/oder in Ihrem Körper ausbreitet. Diese Ressourcenaktivierung ist bekannt aus dem Eye Movement Desensitization and Reprocessing, EMDR ( Posttraumatische Belastungsstörung), lässt sich aber auch in diesem Rahmen wunderbar anwenden.

Long story short

  • Der Körper lügt nie. Er zeigt uns immer den Weg, den wir gehen sollen. Der Körper ist unser bester Freund.

  • In sich Hineinhorchen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, unter Anwendung der oben beschriebenen Methode Ressourcen zu aktivieren und sich damit zu stärken.

  • Körper und Seele sind untrennbar miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Diese Wechselbeziehung lässt sich in beide Richtungen beeinflussen.

Can-do list

  • Versuchen Sie, die oben beschriebene Übung durchzuführen. Was tut sich für Sie? Spüren Sie Erleichterung?
  • Reflektieren Sie, an welchen Stellen bei Ihnen die Seele Einfluss auf den Körper genommen hat und umgekehrt. Hilft Ihnen das weiter?
  • Überlegen sie, was Sie jemandem raten würden, der mit einem Problem wie oben geschildert zu Ihnen kommt. Haben Sie Ideen dazu? Können Sie diese auch auf sich selbst anwenden?

Hier finden Sie Hilfe

Geschulte Gesprächspartner*innen, die in psychischen Lebenskrisen eine Hilfe anbieten können, erreichen Betroffene telefonisch:

  • bei der Telefonseelsorge (Evang.: 0800-111 0 111, Kath.: 0800-111 0 222)
  • im Notfall bei der Polizei (110) oder dem Rettungsdienst (112)

Eine weitere umfangreiche Liste von möglichen Hilfen bietet die Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention unter www.suizidprophylaxe.de 

Dr. med. Birgit Jakobs
Ärztliche Psychotherapeutin mit mehr als 25 Jahren Berufserfahrung als Ärztin, davon etwa 18 Jahre im Bereich Psychiatrie & Psychotherapie.