Anti-StressMit progressiver Muskelentspannung gegen Stress

Fühlen Sie sich gestresst? Entspannungsverfahren wie Progressive Relaxation haben eine wichtige emotionsregulierende Funktion und können helfen, Stressbelastungen konstruktiv zu bewältigen.

Frau hält sich die Hände vor das Gesicht vor schwarzem Hintergrund.
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Wir sind Stressbelastungen meist nicht hilflos ausgeliefert, sondern können lernen, dem Stress aktiv und kompetent zu begegnen.

von Dietmar Ohm

Viele Menschen kämpfen sich mit wachsenden körperlichen und seelischen Beschwerden durch ihren stressreichen Alltag, mit einem entsprechenden Verlust an Lebensqualität. 

Stress ist nicht grundsätzlich negativ. Es kommt auf das rechte Maß an und auf den richtigen Umgang mit Belastungen. Stress ist nicht immer ein äußerer Einfluss, sondern oft „hausgemacht“. Diese Selbsterkenntnis eröffnet effektive Möglichkeiten des Selbstcoachings und des Abbaus von Belastungen durch Einstellungs- und Verhaltensänderungen. Soziale Kompetenz, Zeitmanagement, Arbeitsorganisation und effektiver Umgang mit Problemen können dabei helfen, Stressbelastungen zu verringern.

Es gibt kein Patentrezept, das für jeden und für alle Lebenssituationen gleichermaßen geeignet ist. Es geht daher darum, den individuell passenden Weg oder eine Kombination von geeigneten Möglichkeiten zu finden und in die Tat umzusetzen.

Was ist Stress?

Stress ist prinzipiell etwas Natürliches. Menschen und Tiere hatten ihn schon immer, wenn sie sich herausfordernden Situationen gegenübersahen. Der Begriff für dieses Phänomen wurde allerdings erst in den 1940ern vom Arzt und Biochemiker Hans Selye (1907–1982) geprägt. Vorher war "Stress" nur in der Materialwirtschaft bekannt und bezeichnete Belastungen, die auf Materialien einwirken und diese bei zu hoher Intensität verformen oder beschädigen. Tatsächlich trifft es diese Definition ganz gut: Stress kann unheilvolle Wirkungen entfalten. Die Weltgesundheitsorganisation warnt vor übermäßigem Stress und hat ihn zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhundert erklärt. Befragungen ergeben, dass über 80 % der deutschen Bevölkerung zumindest gelegentlich unter Stress leiden; ein Drittel fühlt sich fast ständig durch

Stress überlastet. Studien zeigen, dass 50 bis 60 % aller verlorenen Arbeitstage mit Stressbelastungen in Zusammenhang stehen. Daraus entstehen nicht nur enorme volkswirtschaftliche Schäden, sondern auch Leid, Krankheit und Einbußen an Lebensqualität. 

Progressive Relaxation

Stress führt zur Anspannung der Muskulatur. Umgekehrt führt die bewusste und systematische Entspannung der Muskulatur zur Beruhigung und zum Stressabbau. Ein gestresster Mensch ist auch muskulär angespannt. Die Progressive Relaxation ist ein wirkungsvolles Entspannungsverfahren.

Der Arzt und Psychologe Edmund Jacobson begründete die progressive Muskelentspannung. Ihm fiel bei seiner Forschung auf, dass Anspannungen der Muskulatur häufig im Zusammenhang mit innerer Unruhe, Stress und Angst auftreten.

Für wen ist die progressive Muskelentspannung nicht geeignet?

Nicht angezeigt ist die progressive Muskelentspannung bei akuten Psychosen, Muskelerkrankungen und Muskelkrämpfen.

Übungshaltungen 

Körperhaltung und Kleidung sollten möglichst bequem sein. Insbesondere empfiehlt es sich, enge Gürtel oder Kleidungsstücke zu lockern. Zum Üben bieten sich Liege- oder Sitzpositionen an, in denen man locker bleiben kann.

Die Liegeposition: Als Liegeposition ist die Rückenlage zu empfehlen. Dabei können Kopf und Nacken eventuell durch ein Kissen unterstützt werden. Häufig wird es als angenehm erlebt, eine zusammengerollte Decke oder eine Rolle unter die Knie zu legen. Die Arme sollten locker neben dem Körper liegen.

Die angelehnte Sitzposition: Das Üben in der Sitzhaltung ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil man nur so in verschiedenen Alltagssituationen üben kann. Eine Sitzgelegenheit lässt sich fast immer finden.

Der Übungsablauf

Das Schließen der Augen erleichtert die Übung, da man auf diese Weise einen großen Teil der Außenreize ausblendet und sich besser auf die inneren Vorgänge einstellen kann.

Das Grundprinzip von Anspannung und Entspannung bei der Progressiven Relaxation

  • Muskeln jeweils für etwa 5–10 Sekunden anspannen.
  • Die Anspannung soll deutlich spürbar sein, ohne in übermäßige Anstrengung oder gar Verkrampfung überzugehen.
  • Möglichst normal weiteratmen.
  • Nach etwa 5 bis 10 Sekunden die Spannung wieder vollständig lösen.
  • Etwa eine halbe Minute ruhen.
  • Dabei auf die Empfindungen in den jeweiligen Muskeln achten.
  • Besonders die Veränderungen erspüren, die auf die vollständige Lösung der Muskeln folgen.

Durch die Konzentration auf die Entspannung und ein Genießen der Übung lässt sich der Ruhezustand deutlich vertiefen. Deshalb ist es wichtig, dass die Entspannungsphase deutlich länger (ca. 30 Sekunden) dauert als die Anspannungsphase (ca. 10 Sekunden): Der Schwerpunkt soll auf der Entspannung liegen. Die einzelnen Übungen können bei Bedarf ein bis zweimal wiederholt werden. In dem am Ende der Übungen erreichten vertieften Ruhezustand kann man je nach Belieben und der zur Verfügung stehenden Zeit länger oder kürzer bleiben.

Alles hat ein Ende: die Zurücknahme

Die Übung wird durch bewusste Aktivierung beendet:

  1. Arme mehrmals fest anbeugen und recken, strecken, rekeln;
  2. mehrmals tief durchatmen;
  3. Augen auf.

Falls man dennoch müde und "schlapp" sein sollte, kann man das Zurücknehmen wiederholen, am offenen Fenster tief durchatmen, sich bewegen. Das Zurücknehmen sollte allerdings unterbleiben, wenn man anschließend schlafen will. Dann lässt man den Entspannungszustand in den Schlaf übergehen.

Übungsablauf der Kurzform in 10 Schritten

1. Hand und Unterarm

Vorbereitung: Wenden Sie sich einer Hand zu. Machen Sie sich bewusst, wie sie sich anfühlt.

Anspannung: (etwa 10 Sekunden): Ballen Sie diese Hand zur Faust. Steigern Sie die Spannung, bis Sie sie deutlich spüren, ohne zu verkrampfen. Achten Sie auf das Spannungsgefühl im Unterarm, in der Hand ...

Loslassen: (etwa 30 Sekunden): Lassen Sie los. Lassen Sie den Arm ganz bequem und locker liegen. Spüren Sie das unterschiedliche Gefühl im Unterarm, in der Hand. Gönnen Sie sich dafür etwas Zeit.

2. Hand und Unterarm

Vorbereitung: Nun konzentrieren Sie sich bitte auf die andere Hand. Wie fühlt sie sich in diesem Moment an?

Anspannung: Hand zur Faust ballen. Auf das Spannungsgefühl im Unterarm, in der Hand, in den Fingern achten.

Loslassen: Wieder loslassen. Dem Arm erlauben, ganz bequem und locker zu liegen. Auf das unterschiedliche Gefühl im Unterarm, in der Hand, in den Fingern achten. Die Entspannung kann sich mehr und mehr ausweiten.

Im Überblick: Die Übungen der Progressiven Relaxation in 10 Schritten

1. Hand und Unterarm: Faust ballen (rechts)

2. Hand und Unterarm: Faust ballen (links)

3. Oberarme: Oberarme anbeugen (Bizeps)

4. Oberarme: Oberarme strecken (Trizeps)

5. Schultern: Schultern hochziehen

6. Gesicht: Gesichtsmuskeln anspannen

7. Rückenmuskeln: Schulterblätter nach hinten ziehen

8. Bauchmuskeln: Bauch einziehen

9. Oberschenkel und Gesäßmuskeln: Oberschenkel und Gesäß anspannen

10. Unterschenkel: Gegenspannung in Schienbein- und Wadenmuskeln

3. Oberarme (Bizeps)

Vorbereitung: Konzentrieren Sie sich als Nächstes auf die Oberarme. Machen Sie sich bewusst, wie sie sich anfühlen.

Anspannung: Arme in Richtung Schultern beugen. Die Muskeln der Oberarme anspannen – die Hände dabei möglichst locker lassen. Spannung in den Oberarmen spüren.

Loslassen: Vollständig loslassen, die Arme ruhen bequem. Aufmerksamkeit zu den Armen lenken. Lockerung und Lösung der Oberarmmuskeln spüren. Noch ein wenig mehr loslassen.

4. Oberarme (Trizeps)

Vorbereitung: Nun gehen Sie weiter zu den Streckmuskeln auf der Rückseite der Oberarme. Wie fühlen sie sich an?

Anspannung: Handinnenflächen nach oben, Arme strecken und gegen die Unterlage drücken. Auf die Spannung in den Streckmuskeln der Oberarme achten.

Loslassen: Spannung vollständig lösen und Arme bequem zurücksinken lassen. Wie fühlen sich die Oberarme an? Die Entspannung kann sich mehr und mehr ausdehnen.

5. Schultern

Vorbereitung: Wenden Sie sich bitte den Schultern zu. Machen Sie sich bewusst, wie sich dieser Körperbereich anfühlt.

Anspannung: Schultern ganz hoch in Richtung Ohren ziehen und auf das Spannungsgefühl in den Schultermuskeln achten.

Loslassen: Wieder vollständig loslassen: Die Schultern sinken ganz zurück. Genießen Sie das angenehme Gefühl der Lockerung und Lösung der Muskeln.

6. Gesicht

Vorbereitung: Und weiter zum Gesicht. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zu Ihrem Gesicht.

Anspannung: Zähne aufeinanderbeißen, Augen zusammenkneifen und Gesichtsmuskeln anspannen.

Loslassen: Spannung wieder völlig lösen. Dem Gesicht erlauben, ganz gelöst, ganz glatt zu sein: der Stirn, der Augenpartie, den Wangen, dem Mund, wobei der Mund sich leicht öffnen kann.

7. Rückenmuskeln

Vorbereitung: Nun konzentrieren Sie sich bitte auf Ihren Rücken. Machen Sie sich bewusst, wie er sich anfühlt.

Anspannung: Rückenmuskeln anspannen durch Zusammenziehen der Schulterblätter nach hinten zur Wirbelsäule hin. Spannung der Rückenmuskeln spüren.

Loslassen: Spannung wieder vollständig lösen und ganz lockerlassen. Rückenmuskeln völlig lösen. Beachten Sie das angenehme Gefühl.

8. Bauchmuskeln

Vorbereitung: Nun gehen wir weiter zu den Bauchmuskeln. Wie fühlt es sich hier in diesem Moment an?

Anspannung: Bauchmuskeln anspannen: Bauch einziehen. Auf das Spannungsgefühl in den Bauchmuskeln achten.

Loslassen: Wieder ganz loslassen. Die Bauchmuskeln vollständig lösen. Spüren Sie der Veränderung nach. Noch ein wenig mehr loslassen.

9. Oberschenkel und Gesäß

Vorbereitung: Wenden Sie sich nun Ihren Beinen zu. Machen Sie sich bewusst, wie diese sich anfühlen.

Anspannung: Gesäß- und Oberschenkelmuskeln anspannen. Spannungsgefühl im Gesäß und in den Oberschenkeln bewusstmachen.

Loslassen: Völlig loslassen. Die Beine ganz lockerlassen. Genießen Sie das angenehme Gefühl von Lockerung und Lösung in den Gesäß- und Oberschenkelmuskeln. Lassen Sie vollständig los.

10. Unterschenkel

Vorbereitung: Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zu den Unterschenkeln.

Anspannung: Die Beine bleiben in ihrer Position, Zehen und Füße in Richtung Gesicht ziehen. Gegenspannung in den Schienbein- und Wadenmuskeln erzeugen, Spannung in den Unterschenkeln spüren und auf das Spannungsgefühl achten.

Loslassen: Spannung vollständig lösen, Beine bequem und locker ruhen lassen. Wie fühlen sich die Unterschenkel nun an? Das angenehme Gefühl spüren.

Achtsamkeit ist für das Üben der Progressiven Relaxation eine große Hilfe, da unser Geist dazu neigt, immer wieder abzuschweifen. So lässt sich eine achtsame Haltung herstellen:

  • Früher oder später werden Gedanken, Pläne, Tagträume, Probleme auftauchen und die Aufmerksamkeit von der jeweiligen Übung ablenken. Das ist vollkommen in Ordnung und normal. Das Abschweifen der Gedanken behutsam zulassen und beobachten (»Aha, da sind Gedanken«). Dann den »Scheinwerfer des Bewusstseins« sanft wieder auf die gerade anstehende Übung richten.

  • Die Gedanken werden sicher wieder und wieder abschweifen. Auch dies akzeptieren und beobachten und dann wieder mit der Aufmerksamkeit zur Übung und den damit verbundenen Empfindungen zurückkehren.

Je nach Bedürfnis kann man im Zustand der vertieften Ruhe länger oder kürzer bleiben. Menschen mit einem plastischen Vorstellungsvermögen können sich auch auf eine Ruhevorstellung konzentrieren, wodurch sich die Entspannung weiter vertiefen kann, z. B. auf Landschafts- und Naturszenen. Alle Erinnerungen, Situationen und Begebenheiten, die mit einem Gefühl von Ruhe verbunden sind, eignen sich für diesen Zweck. Dabei können auch alle Sinne angesprochen werden: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Spüren.

Dr. Dietmar Ohm
Dipl.-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut
Seine Tätigkeitsfelder umfassen neben Psychotherapie und psychologischer Schmerzbewältigung auch Gesundheitspsychologie und Entspannungsverfahren.

Ohm D. Der kleine Anti-Stress-Coach: Die besten Übungen für Achtsamkeit, Entspannung & Stressbewältigung. Stuttgart: Trias; 2021