von Andreas Rüffer, Michaela Eckert, Annemarie Gollsch, Anna Kleinhenz, Diana Krause, Katja Lurz, Martina Niebling, Adrienn Teibert
Inhalt
Darmmikrobiota ist entscheidend
Kommunikation mit dem Immunsystem
Störung der Darmbarriere: Leaky Gut
Chronische Entzündungen als Folge
Nahrungsmittel als Entzündungstrigger
Mögliche Folge: chronische Erkrankungen
Akute Entzündungsreaktionen gehören zum klassischen Immunrepertoire und sind Ausdruck wichtiger Abwehrprozesse. Verschiedene Noxen werden auf diese Weise abgefangen und unschädlich gemacht. Problematisch sind dagegen chronische, teilweise als „silent“ oder „low-grade“ verlaufende Entzündungen. Hier ist der Darm besonders gefährdet. Denn als größte Körperoberfläche ist er der Hauptkontaktort für potenzielle Schadstoffe.
Um deren Übertritt mit der möglichen Auslösung von Entzündungen zu verhindern, verfügt der Darm über ein mehrstufiges Barrieresystem. Getragen wird dieses nicht nur durch die Darmschleimhaut, den Darmschleim, Verdauungsenzyme sowie die Einrichtungen des darmassoziierten Immunsystems. Ein ganz wesentlicher Bestandteil ist auch die Darmmikrobiota.
Darmmikrobiota ist entscheidend
Zentrale Aufgabe der Darmmikrobiota ist die Abwehr fremder Mikroorganismen. Über diese „Kolonisationsresistenz“ wird die Ansiedlung potenzieller Pathogene im Darm sowie deren Schleimhautübertritt verhindert.
Ermöglicht wird dies durch eine ganze Reihe an Maßnahmen, von der Verhinderung der Adhäsion, über die Konkurrenz um Nährstoffe sowie die Milieubeeinflussung bis hin zur Produktion antimikrobieller Substanzen. Darüber hinaus sind weitere Stoffwechselprozesse der Darmmikrobiota für die Aufrechterhaltung einer effektiven Darmbarriere relevant. Dazu zählt insbesondere die mikrobielle Produktion kurzkettiger Fettsäuren. Vor allem das Butyrat spielt dabei eine wichtige Rolle. Es ist nicht nur ein entscheidender Energieträger für die Dickdarmmukosa und damit vital für eine intakte Schleimhautbarriere. Es hat neben vielen anderen Effekten auch direkte antiinflammatorische Wirkungen.
Kommunikation mit dem Immunsystem
Neben diesen direkten Effekten ist die Darmmikrobiota auch entscheidend für eine funktionstüchtige Immunabwehr. Über M-Zellen und verschiedene Rezeptoren erfolgt eine permanente Kommunikation zwischen Darmbakterien und den in der Submukosa stationierten Immunzellen. Dabei resultiert keine reine Immunaktivierung, sondern eher eine Immunmodulation. So werden beispielsweise über eine Hemmung TH1-assoziierter Immunprozesse Entzündungen und allergische Reaktionen unterdrückt.
„Gesamtkunstwerk“ Darm
Voraussetzung für den reibungslosen Ablauf dieser Funktionen ist eine intakte, möglichst vielfältige (diverse) Darmmikrobiota. Dabei geht es um den komplexen Gesamtzustand. Auf der Suche nach erhofften Monokausalitäten rücken jedoch immer wieder einzelne Keime in den Fokus. Beispiele dafür sind Akkermansia muciniphila und Faecalibacterium prausnitzii als angeblich entscheidende Faktoren für die Darm(schleimhaut)gesundheit. So wurden bei vielen Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen verminderte Keimzahlen gefunden.
Demgegenüber gibt es aber auch viele gesunde Menschen, die keine relevanten Mengen dieser beiden Mikroorganismen beherbergen. Nachvollziehbarerweise riskiert die Natur wohl kaum, zentrale Funktionen wie Schleimhautschutz und -versorgung von nur 2 Spezies abhängig zu machen.
Störung der Darmbarriere: Leaky Gut
Klar scheint aber zu sein: Veränderungen in der Darmmikrobiota, so unterschiedlich diese auch sein können, haben negative Folgen für den Wirt. Das betrifft vornehmlich die Barrierefunktion des Darmes. So können Schwächen in der mikrobiellen Abwehr der Ansiedlung von Fremdkeimen (Pathobionten) den Weg bahnen. Das stört nicht nur die residente Mikrobiota bei der Erfüllung ihrer vielen physiologischen Aufgaben, wie beispielsweise der Produktion kurzkettiger Fettsäuren.
Verschiedene im Darm eher unerwünschte Keime wie Proteus sp. und Klebsiella sp. sind beispielsweise in der Lage, biogene Amine, insbesondere Histamin zu produzieren. Das kann die Schleimhaut zusätzlich belasten und Entzündungen fördern. Hinzu kommen die aus mikrobiologischen Imbalancen ebenfalls resultierenden immunologischen Fehlregulationen. Schließlich ist die Kommunikation zwischen Darmmikrobiota und Immunsystem eine wichtige Voraussetzung für dessen Funktionsfähigkeit.
Leaky Gut: Unerwünschte Keime im Darm können Entzündungen und immunologische Fehlregulationen begünstigen. In der Folge kann sich eine erhöhte Durchlässigkeit der Darmwand entwickeln - das Leaky Gut.
All das schwächt letztendlich die intestinale Barrierefunktion mit dem Resultat einer erhöhten, unkontrollierten Durchlässigkeit – auch als „Leaky Gut“ bezeichnet. Dabei handelt es sich vermutlich nicht um eine absolut einheitliche Entität, sondern um eine Funktionseinschränkung ganz unterschiedlicher Konstellation. Basiert doch die Darmbarriere auf den verschiedenen bereits erwähnten Komponenten. Daher können sich dahinter Störungen der Darmmikrobiota und/oder der Darmschleimhaut und/oder des Darmimmunsystems in ganz unterschiedlicher Gewichtung verbergen.
Chronische Entzündungen als Folge
Die Folge solcher Barrierestörungen kann der unkontrollierte Übertritt verschiedener Schadstoffe und Allergene sein. Dazu zählt auch die Darmmikrobiota selbst, zumindest deren Bestandteile. Im Darm sind diese hilfreich, aber nicht außerhalb dessen.
Tatsächlich ist in Verbindung mit einem Leaky Gut nicht selten eine latente Endotoxinämie zu beobachten. Diese wird durch die transepitheliale Passage von Zellwandbestandteilen gramnegativer Darmbakterien, sogenannter Lipopolysaccharide (LPS) oder Endotoxine, gespeist. Das Immunsystem ist für deren Inaktivierung zuständig. Bei vereinzeltem Auftreten erfolgt dieser Vorgang diskret. Auch nach dem täglichen Zähneputzen ist beispielsweise punktuell mit einem mechanisch bedingten Eintrag von Mikroorganismen in den Blutstrom zu rechnen.
Ein nachhaltiges Problem wird in der Regel erst daraus, wenn die Barriere im Darm grundlegend gestört und das lokale Immunsystem aufgrund mikrobieller Verschiebungen aus der Balance gebracht ist. Dann resultieren chronische Entzündungsprozesse, die zwar lokal beginnen, deren Folgen aber über die Freisetzung proentzündlicher Zytokine wie IFN-gamma, IL-1 und TNF-alpha weit über den Darm hinausreichen können.
Nahrungsmittel als Entzündungstrigger
Doch nicht nur LPS fungieren als Entzündungsauslöser. Alltägliche Nahrungsmittel können im Zusammenhang mit einem Leaky Gut zu Störfaktoren werden. Denn auch der unkontrollierte Übertritt von ungespaltenen Nahrungseiweißen bringt das Immunsystem „in Wallung“. Hier scheinen vor allem Immunglobuline der Gruppe G eine Schlüsselrolle zu spielen. Diese haben die Aufgabe, die „Grenzverletzer“ abzufangen. Allerdings erfolgt dieser Vorgang nicht diskret, sondern mithilfe einer Entzündungsreaktion. Bei vereinzeltem Auftreten ist das noch kein größeres Problem. Bei immer wieder erfolgenden Übertritten aufgrund einer nachhaltig gestörten Darmbarriere hingegen schon. Das kann ebenfalls chronische Entzündungsprozesse nach sich ziehen.
Mögliche Folge: chronische Erkrankungen
Tatsächlich werden bei verschiedenen chronischen Erkrankungen Endotoxinämien, erhöhte nahrungsmittelspezifische IgG-Titer und vermehrt proinflammatorische Zytokine im Sinne von „silent“ oder „low-grade inflammations“ nachgewiesen. Dazu zählen beispielsweise
- das metabolische Syndrom (Übergewicht, Typ-2-Diabetes),
- verschiedene Autoimmunerkrankungen (z.B. Hashimoto-Thyreoiditis),
- Arteriosklerose,
- kardiovaskuläre Erkrankungen,
- rheumatoide Arthritis und
- neurodegenerative Erkrankungen.
Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen existieren ebenfalls erste Hinweise auf eine mögliche Beteiligung IgG-vermittelter Reaktionen auf Nahrungsmittel. Ob es sich dabei um einen ätiologischen Faktor oder die Folge der Schleimhautalterationen handelt, bleibt noch zu klären.
Mit zunehmendem Alter steigt die Tendenz zu „silent“ oder „low-grade inflammations“ und damit letztlich auch das Risiko für die damit assoziierten Erkrankungen.
Natürlich handelt es sich bei den genannten Erkrankungen um komplexe multifaktorielle Geschehen, die nicht nur auf Störungen der intestinalen Mikroökologie beruhen. Die Darmschleimhaut, das Darmimmunsystem und die Darmmikrobiota scheinen aber bei der Krankheitsentstehung und dem Verlauf eine wesentliche Rolle zu spielen.
Diagnostik
Zum Nachweis florider Entzündungen im Darm ist die endoskopische Diagnostik der Goldstandard. Allerdings lässt sich auf diesem Wege nicht die ganze Bandbreite der potenziellen funktionellen Störungen erfassen – von Dysbalancen der Darmmikrobiota über die erhöhte Schleimhautdurchlässigkeit bis hin zu immunologischen Fehlregulationen. Hinweise auf diese „Baustellen“ kann aber die Stuhluntersuchung liefern.
Analyse der Stuhlflora
Wenn es um die Darmmikrobiota geht, wird für wissenschaftliche Fragestellungen mittlerweile fast ausschließlich mit molekularbiologischen Darmmikrobiom-Analysen gearbeitet. Auf diese Weise lassen sich (fast) alle mikrobiellen Vertreter im Darm bzw. deren Genome erfassen.
Für die Routinediagnostik machen diese Analysen allerdings derzeit noch wenig Sinn. Denn Bedeutung und Funktion der meisten der so nachgewiesenen Keime sind noch vollkommen unbekannt, ebenso deren mögliche Beeinflussung. Die aktuell medizinisch interpretierbaren Darmmikrobiota-Vertreter sind zudem ohne Weiteres mit klassisch-kulturellen Verfahren erfassbar. Der große Vorteil dabei: Es handelt sich um einen Direktnachweis der Mikroorganismen, bei dem nur die lebensfähigen Keime erfasst werden.
Molekularbiologische Analysen weisen dagegen nicht die Mikroben an sich, sondern mikrobielle Genome nach und können nicht zwischen tot und lebendig unterscheiden. Außerdem sind die aktuell eingesetzten Verfahren zur Mikrobiomanalytik nicht standardisiert. Die Ergebnisse verschiedener Labore sind daher untereinander nicht vergleichbar. Das gilt übrigens auch für viele der bislang erhobenen Mikrobiomstudien.
Die Standarddiagnostik für die Routine ist und bleibt daher die quantitative Stuhlflora-Analyse mit einer Reihe tatsächlich interpretierbarer Markerkeime.
Darüber hinaus kann ergänzend über diverse fäkale Marker der Zustand der Darmschleimhaut sowie des Darmimmunsystems erfasst werden.
Leaky-Gut-Marker
Erhöhte Werte von Alpha-1-Antitrypsin bzw. Zonulin im Stuhl gelten als Indiz für eine gesteigerte Permeabilität der Darmschleimhaut:
- Alpha-1-Antitrypsin spiegelt dabei Eiweißverluste in das Darmlumen wider, die auf eine unphysiologische Darmdurchlässigkeit schließen lassen.
- Zonulin fungiert dagegen als Regulatorprotein für die „Tight Junctions“ des Darmepithels. Mit steigendem Zonulin öffnen sich diese und ermöglichen so einen vermehrten parazellulären Stoffdurchtritt.
Keiner der beiden Marker ist offensichtlich in der Lage, alle Leaky-Gut-Fälle zu erkennen. Ihre Kombination steigert aber zumindest die Sensitivität. Zonulin lässt sich darüber hinaus auch im Blut messen.
Entzündungsmarker im Stuhl
Weitergehende Alterationen der Darmschleimhaut in Form von Entzündungen gehen meist mit der vermehrten fäkalen Ausscheidung verschiedener leukozytärer Marker einher. Dazu zählen Calprotectin, Lactoferrin, PMN-Elastase und Lysozym.
Auch hier gilt: Es gibt leider keinen Allround-Entzündungsmarker, der sicher sämtliche Inflammationen im Darm erkennt. Daher ist hier ebenfalls eine kombinierte Messung zu empfehlen. Im Rahmen verschiedener Studien bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen hat sich insbesondere die Kombination aus Calprotectin, Lactoferrin und PMN-Elastase bewährt.
Immunmarker im Stuhl
Die Menge an sekretorischem IgA (sIgA) im Stuhl gilt als Maß für die Funktionslage des spezifischen darmassoziierten Immunsystems. Niedrige Werte signalisieren einen mangelnden immunologischen Schutz der Darmschleimhaut. Erhöhte Werte sind beispielsweise im Zusammenhang mit Infektionen und Entzündungen zu beobachten.
Hinweise auf die Lage der angeborenen Immunabwehr im Darm gibt darüber hinaus das ß-Defensin 2 im Stuhl. Die Menge des ß-Defensin 2 im Stuhl wird analog zum sIgA bewertet.
Probiotische Therapie
Zur Beeinflussung von Dysbalancen in der Darmmikrobiota werden vor allem Probiotika eingesetzt. Die Wirksamkeit probiotischer Therapien ist mittlerweile durch zahlreiche Studien belegt. Dabei stehen immunmodulatorische Effekte im Vordergrund, die auch antientzündliche Wirkungen bedingen. Außerdem lassen sich tatsächlich auf diesem Wege auch spezifische mikrobielle Veränderungen im Darm erreichen.
Die Präparateauswahl hat sich anhand der bereits erwähnten Untersuchung der Stuhlflora bewährt. Diese erfasst alle obligaten Darmkeime, die aktuell auch als Arzneimittel bzw. Nahrungsergänzungsmittel erhältlich sind: E. coli, Enterococcus sp., Lactobacillus sp. und Bifidobacterium sp.
Es scheint nicht primär entscheidend, welche und wie viele verschiedene Spezies beispielsweise an Laktobazillen oder Bifidobakterien in einem Produkt enthalten sind. Wichtig für eine effektive Therapie sind offensichtlich eine ausreichende Keimzahl von mindestens 108–109 pro therapeutischer Dosis sowie die regelmäßige und ausreichend lange Einnahme.
Eine unabhängige Marktübersicht der aktuell verfügbaren mikrobiologischen Präparate ist bei den Verfassern erhältlich.
Präbiotische Therapie
Ballaststoffkonzentrate, auch als Präbiotika bezeichnet, können die probiotische Therapie synergistisch unterstützen. Dazu zählen beispielsweise Inulin, resistentes Dextrin und Akazienfasern. Sie fördern den Stoffwechsel verschiedener physiologischer Darmbakterien. Das wirkt sich nicht nur positiv auf deren Keimzahl aus, sondern letztlich auch auf die mikrobielle Produktion kurzkettiger Fettsäuren. Diese wirken u.a. antiinflammatorisch und versorgen die Darmschleimhaut mit Energie. Außerdem senken sie den Dickdarm-pH und erschweren damit Fremdkeimen die Ansiedlung und den Stoffwechsel.
Schleimhauttherapie
Über den Einsatz von Pro- und Präbiotika hinaus stehen weitere therapeutische Möglichkeiten zur Entzündungshemmung bzw. Schleimhautheilung zur Verfügung. Die Auswahl erfolgt in der Regel anhand der klinischen Gegebenheiten, am besten auf der Basis eines Stuhlbefundes.
Ernährung
Der erwähnte präbiotische Effekt ist natürlich nicht nur mit der Einnahme entsprechender Nahrungsergänzungsmittel zu erreichen.
Die beste und dauerhafte Pflege der Darmmikrobiota gewährt eine ballaststoffreiche Ernährung. Deren positive Auswirkung gerade auch auf viele chronische Erkrankungen ist vielfach belegt.
Außerdem kann ergänzend, wie erwähnt, auch die Messung nahrungsmittelspezifischer IgG hilfreich sein. Die zumindest zeitweise Meidung darüber auffällig getesteter Nahrungsmittel kann in vielen Fällen eine deutliche Entlastung für das Immunsystem und die Schleimhaut schaffen.
Insgesamt handelt es sich bei chronischen Entzündungen, einschließlich der Veränderungen der Darmmikrobiota, um komplexe Prozesse. Diese erfordern daher auch eine dementsprechende multimodale diagnostische und therapeutische Herangehensweise.
Für die Autor*innen:
Dr. Andreas Rüffer
Fachtierarzt für Mikrobiologie
Enterosan®/Labor LS SE & Co. KG
Andreas.Rueffer@Labor-LS.de