Kurz gefasst
- Anhand eines Fallbeispiels zeigt der Autor, wie bestimmte Virusinfektionen ein häufig fehldiagnostiziertes postvirales Fatigue-Syndrom nach sich ziehen können.
- Zu den Kardinalsymptomen gehören körperliche und geistige Erschöpfung und gesteigerte Ermüdbarkeit, begleitet von u.a. Muskelschmerzen, Gedächtnis- sowie weiteren kognitiven Störungen.
- Eine häufige Ursache ist eine Mitochondriopathie. Sie kann nach einer Funktionstestung der Mitochondrien individuell und kausal mit orthomolekularer Medizin behandelt werden.
Postvirales Fatigue-Syndrom: Wie können Viruserkrankungen die Mitochondrien erschöpfen?
Nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie sind Folgephänomene nach viralen Erkrankungen in den letzten Jahren viel stärker in den Fokus getreten. Das Post-Covid-Syndrom zeigt eindrücklich, dass nach einer viralen Erkrankung auch längerfristig – teilweise massive – Symptome auftreten können. Besonders im Vordergrund stehen Müdigkeits- und Erschöpfungszustände. Diese kennt man auch als Folge einer Eppstein-Bar-Virus-Infektion (EBV) – nur wurden diese Zusammenhänge bisher nicht wirklich anerkannt, denn häufig wird postvirale Müdigkeit als psycho-gen abgetan. Durch die Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie sollte hier nun hoffentlich ein breiteres Umdenken erfolgen, damit die Patienten ernst genommen und die Symptome als potenziell organisch verursacht angesehen werden.
Es zeigt sich aus Erfahrungen und vielen Laboruntersuchungen, dass ein Ansatz in der Erklärung postviraler Müdigkeit wohl in einer Funktionsstörung der Mitochondrien beziehungsweise Mitochondriopathie (siehe Kasten) zu suchen ist.
Der Fallbericht soll zum Erfahrungsaustausch beitragen und das Potenzial der orthomolekularen Medizin in diesem Indikationsspektrum darstellen.
Der Fall aus der Praxis
Bei dem Patienten handelte sich um einen 41-jährigen Mann. Vorerkrankungen bestanden nicht. Er war völlig gesund, bevor er an einem viralen Infekt erkrankte.
Hauptsymptome waren Schnupfen, Husten, Glieder- und Halsschmerzen sowie stark geschwollene Lymphknoten in der Halsregion und geschwollene Mandeln. Es kam zu Fieber bis 39 °C. Als einzige therapeutische Maßnahme durch den Hausarzt erfolgte die Verschreibung von Ibuprofen 3 × tgl. 400 mg zur Symptomlinderung.
Der Infekt dauerte 8 Tage, danach reduzierten sich die Symptome. Allerdings blieb eine vom Patienten als „bleiern“ beschriebene ausgeprägte Müdigkeit übrig. Diese für ihn ungewöhnliche, bisher nicht erlebte, Erschöpfung zeigte keine weitere Besserung in den nächsten Wochen; auch die Lymphknoten am Hals blieben geschwollen, wenn auch geringer ausgeprägt.
Neben der Erschöpfung traten allgemeine Muskelschmerzen und auch Konzentrationsschwäche und Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses auf. Der Patient verwendete den Begriff „Brain Fog“, der typischerweise auch in der Literatur so beschrieben wird. Ein Gefühl, als befinde man sich mit seinem Denken in einem Nebel.
Der erneute Besuch beim Hausarzt hatte keine neuen Erkenntnisse erbracht, im Rahmen der körperlichen Untersuchung und einer Basis-Labordiagnostik konnten keine speziellen pathologischen Befunde festgestellt werden. Der Patient erhielt die Diagnose „Erschöpfung“ und keine weiteren therapeutischen Empfehlungen, da ja alles unauffällig sei.
Da sich die Symptome aber nicht besserten und somit auch die Arbeitsfähigkeit massiv beeinträchtigt war, stellte sich der Patient in meiner ambulanten Sprechstunde vor.
Aufgrund der Anamnese konnte die Verdachtsdiagnose „postvirales Fatigue-Syndrom“ gestellt werden. Eine orientierende körperliche Untersuchung ergab keinen hinweisgebenden pathologischen Befund.
Von Verdachtsdiagnose zur Labordiagnostik
Um möglichen Ursachen auf den Grund zu gehen, wurde eine Labordiagnostik in die Wege geleitet. Neben einer Untersuchung der roten und weißen Blutkörperchen, des CRP und der Leberwerte wurden bestimmte Mikronährstoffe im Blut gemessen – und es konnten Mängel im Bereich Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren, Vitamin B12 und Coenzym Q10 nachgewiesen werden.
Der bioenergetische Gesundheitsindex
Zudem wurde eine Funktionstestung der Mitochondrien in die Wege geleitet. Dabei steht die Messung des sog. bioenergetischen Gesundheitsindex (BHI) im Zentrum. Das Prinzip des bioenergetischen Profils basiert auf der Messung mitochondrialer Sauerstoffverbrauchsraten (Oxygen Consumption Rate: OCR) in Lymphozyten und Monozyten des peripheren Blutes unter dem Einfluss verschiedener Zusätze wie zum Beispiel spezieller Inhibitoren.
Letztendlich werden mehrere Parameter (Basalatmung, ATP-Produktion, Protonenleck, maximale Atmung, Reservekapazität, nicht-mitochondriale Atmung) bestimmt, die in ihrer Gesamtheit eine prognostische Aussage über die Gesundheit der Mitochondrien erlauben. Der BHI selbst wird aus den ermittelten Parametern berechnet und ermöglicht dann eine prognostische Aussage über die Gesundheit der Mitochondrien.
Der Test fiel in diesem Fall deutlich pathologisch aus (siehe Abb. 2): Die mangelnde ATP-Produktion und Reservekapazität sowie erhöhte Werte für Protonenleck und nicht-mitochondriale Atmung wiesen klar auf eine Dysfunktion der Mitochondrien hin.
Hintergrund: Virusinfektionen und Mitochondriopathie
Eine Mitochondriopathie wird häufig durch einen Virusinfekt ausgelöst. Mitochondrien sind wesentlich an der körpereigenen Virusabwehr beteiligt, indem sie durch das sog. MAVS (Mitochondrial antiviral signaling protein) die intrazelluläre Viruserkennung sichern und dann das angeborene/unspezifische Immunsystem aktivieren.
Viren wie das EBV und auch Covid 19 stören diesen Mechanismus der mitochondrialen Viruserkennung und Immunaktivierung durch spezifische virale Proteine – dies mit dem Ziel, die Immunabwehr zu reduzieren. Dadurch wird allerdings auch die allgemeine mitochondriale Funktion im Sinne der ATP-Produktion stark in Mitleidenschaft gezogen.
Auch nach Abheilung des viralen Infekts verbleiben diese Funktionsstörungen und führen letztendlich zu einem ATP-Defizit in den Zellen, das zu einer systemischen Problematik führt, da praktisch alle Zell-/Organsysteme betroffen sind. Dieser Multisystemcharakter erklärt auch die vielgestaltigen physischen und mentalen Symptome.
Anhand der Höhe des BHI (siehe Abb. 2) lässt sich eine Prognose über die Therapiedauer ableiten. Bei dem hier deutlich reduzierten Wert von 1,54 (Normalwert: > 2,0) ist von einer Interventionsdauer von mehreren Monaten auszugehen.
Durch diese Diagnostik konnte also eine mitochondriale Funktionsstörung als zentral für die Symptome angenommen werden.
Orthomolekulare Therapie der Mitochondriopathie
Aufgrund der Symptomatik und der erhobenen Laborwerte wurde eine individuelle Mikronährstofftherapie zusammengestellt und als Magistral- bzw. Individualrezeptur verordnet. Dadurch kann in einer Apotheke ein einzelnes Produkt hergestellt werden mit allen verordneten Wirkstoffen. Das verbessert die Einnahme und somit die Compliance deutlich.
Zur Behandlung der mitochondrialen Störung wurde eine orthomolekulare Therapie zusammengestellt: α-Liponsäure, Vitamin D, Vitamin-B-Komplex (separat noch die Vitamine B1, B2 und B12, um höhere Dosierungen zu erreichen), Quercetin, OPC, Taurin, Coenzym Q10, NADH, L-Carnitin, Mangan und Omega-3 EPA. All diese Mikronährstoffe führen zur Verbesserung der gestörten mitochondrialen Funktion und zu einer besseren Mitochondriogenese, also einer Neubildung gesunder Mitochondrien.
Parallel dazu wurde dem Patienten empfohlen, eine Low-Carb-Diät mit einer Tages-Höchstmenge an Kohlenhydraten von 120 g einzuhalten. Man weiß aus Erfahrung, dass bei einer mitochondrialen Störung eine Reduktion der Kohlenhydrataufnahme und somit der Insulinlast eine positive Wirkung auf die mitochondriale Funktion erzielt wird.
Um die Leistungsfähigkeit etwas schneller positiv zu beeinflussen und v.a. auch die mentalen Symptome (Brain Fog) schneller anzugehen, erfolgte die Gabe von Galactose aufgeteilt auf 3 Tagesportionen. Dieser Zucker wirkt insulinunabhängig und kann somit sehr gut parallel zu anderen therapeutischen Maßnahmen, v.a. der orthomolekularen Medizin, eingenommen werden. Mithilfe der Galactose wird in den Zellen schneller und einfacher ATP hergestellt, was das Energiedefizit ausgleicht.
Verlauf
Unter diesem Regime zeigte der Patient bereits nach 2 Wochen erste Verbesserungen, v.a. was das Gefühl der Müdigkeit und des kognitiven Benommenseins anging. Die körperliche Leistungsfähigkeit war weiterhin deutlich eingeschränkt. Das entsprach den Erwartungen, da eine auf die Mitochondrien abzielende Therapie mehrere Wochen benötigt, um einen spürbaren Effekt zu erzielen.
Die Therapie wurde dementsprechend unverändert weitergeführt, mit der orthomolekularen Medizin als Basis. Im weiteren Verlauf wurde noch 5-HTP zur Verbesserung der Serotonin- und letztendlich der Melatoninproduktion ergänzt. Durch erhöhtes Melatonin wird die Regeneration des Körpers in der Nacht verbessert, was sich ebenfalls positiv auf die Mitochondrien auswirkt.
Unter diesem Therapieregime kam es zu einer stetigen Besserung der Symptome. Nach einer Behandlungszeit von 8 Wochen war der Patient annähernd beschwerdefrei.
Fazit
Postvirale Müdigkeit ist ein immer wieder vorkommendes Phänomen, welches vielfältige Symptome zeigen kann. Oft liegt eine mitochondriale Störung zugrunde, weshalb eine orthomolekulare Behandlung ein sehr sinnvoller Ansatz sein kann.
Autor
Dr. med. Simon Feldhaus ist Facharzt für Allgemeinmedizin (D) mit Fähigkeitsausweis Phytotherapie FMH/SMGP und interventionelle Schmerztherapie SSIPM, Dipl. Heilpraktiker sowie Dipl. TCM-Therapeut. Er leitet die Abteilung Medizinische Dienste und ist Ärztlicher Leiter Ambulatorium im KompetenzZentrum für Ganzheitsmedizin der Paramed AG in Baar (Schweiz). Zudem ist er Präsident der SSAAMP.