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Im deutschsprachigen Raum werden Naturheilverfahren von seriösen Anbietern im Rahmen der Komplementärmedizin angeboten. Komplementärmedizin ersetzt keine schulmedizinischen Verfahren, sie versucht durch ergänzenden Einsatz Synergieeffekte zu bewirken. Ihr Spektrum geht über die klassischen Naturheilverfahren (Kneipp’sche Anwendungen, Phytotherapie etc.) hinaus; weitere Therapiemethoden – z. B. anderer Medizinsysteme – werden dazugerechnet.
Werden die komplementär-naturheilkundlichen Therapieverfahren in die konventionelle Therapie eingebaut und mit dieser kombiniert, spricht man von Integrativer Medizin. Für den integrativen Einsatz wird in den meisten Fällen auch vorausgesetzt, dass es eine wissenschaftliche Fundierung dieser Verfahren gibt oder wenigstens begründete Hinweise auf eine Wirksamkeit bei gleichzeitiger Unbedenklichkeit.
Entwicklung
Die seriöse und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit naturheilkundlichen Therapien und deren Einbindung begann um 1990 in den USA. Eine Umfrage mit 1500 Teilnehmern hatte ergeben, dass die Nutzerrate der als „unkonventionell“ definierten Interventionen (v. a. naturheilkundlicher Verfahren wie Entspannungstechniken, Hypnose, Akupunktur, Phytotherapie, Bewegung etc.) im vorangegangenen Jahr mit 34 % über der Rate derjenigen lag, die einen Allgemeinmediziner konsultiert hatten. 72 % dieser Nutzer – mehrheitlich Krebs- und chronisch Erkrankte – hatten ihren behandelnden Arzt auch nicht über diese Inanspruchnahme informiert [13]. Die aus diesen Erkenntnissen resultierende Verunsicherung führte 1992 im US-Gesundheitsministerium zur Gründung des heutigen „National Center for Complementary and Integrative Medicine“ (NCCIH) [19]. Ziel war u. a. die wissenschaftliche Evaluation dieser „unkonventionellen“ Verfahren, die mit erheblichen Fördermitteln unterstützt wurde: 2022 waren dies knapp 160 Mio. Dollar [18]. In Deutschland gab und gibt es keine solche institutionell geförderte komplementärmedizinische Unterstützung. Aber trotz der nicht ganz einfachen Ausgangslage wurden in den letzten 20 Jahren u. a. in Essen, Berlin und Bamberg integrativmedizinische Kliniken/Bettenabteilungen in großen öffentlichen Akutkliniken gegründet, die gleichberechtigt und kooperierend mit den anderen Abteilungen Patienten behandeln und Forschung voranbringen.
Integrative Medizin
Die Unterscheidung zwischen komplementären Angeboten und integrativer Vorgehensweise begann Anfang der 1990er Jahre in England, als die onkologische Abteilung des Londoner Hammersmith Hospitals nach einer Befragung seiner Patient*innen die Notwendigkeit eines holistischen supportiven (medizinisch, sozial und psychologisch) Angebots vor Augen geführt bekommen hatte, da das Umfrageergebnis dem o. g. amerikanischen sehr ähnelte. Man beschloss, Therapieangebote und Philosophie des Bristol Complementary Medicine Centre for Cancer Patients zu übernehmen und zu integrieren [4]. Fortan gab es im Hammersmith Hospital gemeinsam mit Kollegen aus Bristol zusätzliche Angebote wie psychologische Unterstützung, Massage und Akupunktur. Heute gibt es diese Angebote auch im angeschlossenen Charing Cross Hospital [5]. Nicht lange danach folgten ähnliche Schritte in Nordamerika, und es entstand auch eine klare Definition, was unter Integrativer Medizin zu verstehen sei:
Integrative Medizin stellt ein übergeordnetes System von Versorgungssystemen dar, das das Wohlbefinden und die Heilung des gesamten Menschen (bio-psycho-sozio-spirituelle Dimensionen) als primäre Ziele betont und sowohl konventionelle als auch komplementäre Ansätze im Kontext einer unterstützenden und effektiven Arzt-Patienten-Beziehung berücksichtigt [1].
Weltweit wird heute unsere Krankenversorgung durch das sog. biomedizinische Krankheitsmodell bestimmt [24]. Dieses geht von der Grundannahme einer feststellbaren Ursache aus, die zu einer Schädigung von z. B. Zellen oder Gewebe oder einer Fehlregulation von Stoffwechselprozessen geführt hat. Basierend auf der Symptomatik wird die Diagnose gestellt und eine Behandlungsstrategie abgeleitet.
Im Gegensatz hierzu blickt der integrative Ansatz auf die Untersuchung und Betrachtung des Ganzen: Er basiert auf einer Reihe von Grundwerten, die das Ziel beinhalten, den ganzen Menschen zu behandeln, die angeborenen Heilungskräfte jedes Menschen zu unterstützen und Gesundheit und Wohlbefinden sowie die Vorbeugung von Krankheiten zu fördern. Die Integrative Medizin verwendet einen interdisziplinären Teamansatz, der von Konsensbildung, gegenseitigem Respekt und einer gemeinsamen Vision von Gesundheit geleitet wird. Der Patient steht im Mittelpunkt, man orientiert sich an dessen individuellen Ressourcen und aktiviert seine Selbstheilungskräfte. Hierzu werden konventionelle und komplementäre Behandlungen sinnvoll kombiniert ohne den philosophischen Kontext der Pflege als Intervention aus den Augen zu verlieren [3].
In den o. g. deutschen Kliniken wurden eigenständige integrativmedizinische Bettenstationen und angegliederte ambulante Institute mit unterschiedlichen Schwerpunkten gegründet, die den Patienten das gesamte diagnostische und therapeutische Spektrum des Hauses anbieten können. In Essen liegen die Schwerpunkte auf der Inneren Medizin, v. a. der Schmerzbehandlung, und der gynäkologischen Onkologie, in Bamberg auf der Inneren Medizin und Gastroenterologie, in Berlin auf der Inneren Medizin und Kardiologie, in Stuttgart, München, Münster, Hamburg, Erlangen, Nürnberg, Jena sind an den örtlichen Akut-(Universitäts-)Kliniken ambulante Angebote in der integrativen Onkologie aufgebaut worden, die entweder vorrangig beratend tätig sind oder weiterreichende Therapieangebote vorhalten.
Das Konzept der Integrativen Medizin
Am Beispiel des „Essener Modells“, der ersten Klinik für Integrative Medizin in Deutschland (gegründet 1999), lässt sich die integrativmedizinische Versorgung gut darstellen. An diesem Konzept orientieren sich auch die Kliniken in Berlin und Bamberg. In diesen Kliniken werden die konventionelle „schulmedizinische“ Therapie, sog. „klassische“ und „erweiterte“ Naturheilverfahren sowie die strukturierte gesundheitszentrierte Lebensstilmodifikation (lifestyle change, Ordnungstherapie) additiv zusammengeführt.
Die praktische Umsetzung sieht dann in etwa folgendermaßen aus:
- Die Patientenaufnahme erfolgt multidisziplinär durch verschiedene Fachrichtungen, i. d. R. beinhaltet dies eine einstündige Anamnese und Untersuchung durch den aufnehmenden Arzt, ein einstündiges Aufnahmegespräch durch einen Ordnungstherapeuten, eine halbstündige pflegerische Aufnahme und fakultativ eine Erstuntersuchung durch die Physiotherapie.
- Die Visite erfolgt multidisziplinär.
- Im zeitlichen stationären Ablauf ergibt sich eine deutliche Ausdehnung der Behandlungszeiten im Vergleich zu konventionellen Abteilungen. Tägliche mehrstündige ordnungstherapeutische Behandlungen und Schulungen, intensivierte ärztliche und physikalische Therapien führen zur Ausdehnung der üblichen Therapiezeiten bis etwa 19 Uhr sowie therapeutische Aktivitäten auch an den Wochenenden. Konsekutiv ist im Personalbereich eine flexible Arbeitszeitgestaltung notwendig.
- Die Zusammenführung der Therapien und die individuelle patientenorientierte Optimierung machen regelmäßige multidisziplinäre Patientenbesprechungen notwendig.
- Enge Verzahnung mit anderen Abteilungen und Konsiliardiensten zur Sicherung der Behandlungsqualität der komplexen Patienten im konventionellen Vorgehen.
Konventionelle Diagnostik und Therapie
Diagnostische und therapeutische Optionen der Therapie werden entsprechend den Erkenntnissen der modernen Inneren Medizin und mit Schwerpunkt auf ein evidenzbasiertes und leitliniengerechtes Krankheitsmanagement umgesetzt. Die Erfahrungen zeigen aber auch, dass ein relevanter Anteil der Patienten durch Unverträglichkeiten, unerwünschte Wirkungen, komplizierende Komorbiditäten und damit durch generelle Einschränkungen für das konventionelle Vorgehen charakterisiert ist. Insgesamt ergibt sich damit ein vielschichtiger und komplexer therapeutischer Ansatz. Dies bestätigt den vorgegebenen Konzeptentwurf, in dem in der ärztlichen personellen Struktur unterschiedliche Fachärzte mit breiter Expertise in der jeweiligen Spezialisierung vorgehalten werden müssen.
Naturheilkundliche und komplementäre Therapie
Komplementäre und naturheilkundliche Verfahren können in Therapiegruppen gegliedert werden. Im mitteleuropäischen Raum werden entsprechend der Definition der Fachgesellschaften (z. B. European Society of Integrative Medicine [ESIM] e. V. oder Deutsche Gesellschaft für Naturheilkunde [DGNHK] [7], [14]) und der ärztlichen Weiterbildungsordnung die klassischen und die erweiterten Naturheilverfahren unterschieden:
- klassische Naturheilverfahren:
- Hydrotherapie, Balneotherapie, Thermotherapie, Elektrotherapie
- Bewegungstherapie, manuelle Therapie, Massage, Physiotherapie (auch Verfahren wie Feldenkrais, Yoga, Alexander-Technik, Taijiquan/Qigong u. a.)
- Phytotherapie
- Ernährungstherapie, Fastentherapie
- Ordnungstherapie, Mind-Body-medizinische Verfahren
- erweiterte und traditionelle Naturheilverfahren
- Neuraltherapie, Osteopathie
- Akupunktur und Traditionelle Chinesische Medizin
- Ayurveda u. a. traditionelle indische Medizinbereiche
- ausleitende/ableitende Verfahren (Schröpfen, Blutegel etc.)
Homöopathie und anthroposophische Medizin gelten als eigenständige Therapierichtungen und werden nur im Rahmen wissenschaftlicher Fragestellungen eingesetzt.
Apparative Verfahren wie Sauerstofftherapie, Bioresonanz, Elektroakupunktur etc. sind bislang ohne Wirksamkeitsnachweis und zählen nicht zu den Naturheilverfahren im eigentlichen Sinne. Sie wurden nicht im Konzept implementiert.
Ordnungstherapie/Lebensstilmodifikation und Mind-Body-Medizin
Im Bereich der Ordnungstherapie werden die Elemente der klassischen Naturheilkunde (Bewegung, Ernährung, Stressreduktion, Hydrotherapie, naturheilkundliche Selbsthilfe) mit dem Ziel der strukturierten Verhaltensänderung hin zu einem gesundheitsfördernden Lebensstil zusammengeführt. Dies beinhaltet die Vermittlung von Information, die Schulung unter Einbezug gesundheitspädagogischer Erkenntnisse und die gezielte Motivationsbildung im Sinne des „Empowerment“. Eine vorrangige Bedeutung kommt hierbei der Stressreduktion zu. Vor diesem Hintergrund werden in das Konzept Kernelemente des an der Harvard Medical School entwickelten Programms der „Mind Body Medicine“ miteinbezogen. Schulungen in Entspannungsverfahren zum Erzielen der sog. „relaxation response“ werden mit Techniken der motivierenden Gesprächsführung, der kognitiven Umstrukturierung und Aspekten der sozialen Unterstützung verbunden [2]. Erweiterte Aspekte der Naturheilkunde wie Chronobiologie und konstitutionelle Voraussetzungen werden zur Optimierung der individuellen Umsetzung [8] gezielt und schwerpunktmäßig genutzt.
Therapieziele
Für das Therapieziel ist von entscheidender Bedeutung, dass es sich bei den Zielindikationen um chronische Erkrankungen mit akut progredientem oder therapieresistentem bzw. rezidivierend-exazerbiertem Verlauf handelt. Im Konzept der integrativmedizinischen Versorgung gibt es 2 Behandlungsebenen bzw. Zielausrichtungen:
- Es wird eine adäquate konventionelle Therapie eingeleitet, die zu einer bestmöglichen Beschwerdebesserung und Verbesserung des Krankheitsgeschehens führt. Durch den interdisziplinären und additiven Einsatz wissenschaftlich fundierter Naturheilverfahren wird das therapeutische Potenzial erweitert und zusammengeführt, also „das Beste von beidem“ angestrebt.
- Darüber hinaus wird die sog. „vulnerable“ Phase des Patienten (bedingt durch die Krankenhaussituation, die größere Empfindlichkeit und Stressanfälligkeit auslöst) und das Potenzial der Integrativen Therapie dafür genutzt, eine spezifische Lebensstilmodifikation mit Minimierung von auslösenden verhaltensabhängigen Krankheitsfaktoren sowie eine umfassende Förderung der Selbstwirksamkeit und Selbsthilfefähigkeit zu induzieren. Damit wird auf die Nachhaltigkeit des Therapieeffekts und die weitere Entchronifizierung abgezielt.
Integrative Onkologie
Die erste eigenständige Klinik für Integrative Onkologie wird 2023 an den Kliniken Essen-Mitte aufgebaut, nachdem bereits über 10 Jahre im dortigen Brustzentrum und der Klinik für gynäkologische Onkologie Patienten in Kooperation mit der Klinik für Integrative Medizin nach dem oben beschriebenen Konzept im interdisziplinären Team stationär und ambulant integrativ behandelt worden waren. Die Angebote werden zusätzlich zur konventionellen Krebsbehandlung eingesetzt und umfassen Behandlungsmöglichkeiten wie Akupunktur, Massagetherapie, naturheilkundliche Behandlungen und Mind-Body-Medizin. Hauptindikationen für diese Behandlungen sind Nebenwirkungen der konventionellen Krebsbehandlung und die Unterstützung der Patienten bei der Bewältigung der Krebserkrankung. Wöchentliche Teambesprechungen, gemeinsame Visiten und genutzte Räumlichkeiten sind Bestandteil der Routine [10].
Aufgrund der meist kurzen stationären Aufenthalte wird das integrative Angebot durch ein multimodales Programm erweitert, das in Form einer onkologisch-naturheilkundlichen Tagesklinik (11 Termine à 6 Stunden), die an die Rahmenbedingungen eines teilstationären, durch die Krankenkassen finanzierten naturheilkundlich-onkologischen Programms, sowie an die Möglichkeiten und Bedürfnisse von Tumorpatienten (unter adjuvanter oder Chemo-/Radiotherapie) adaptiert wurde. Das Programm umfasst Informationen zur Psychophysiologie von Stress, Übungen der Achtsamkeit, Yoga und Qigong. Weiterhin gibt es Elemente aus der kognitiv-behavioralen Therapie und es werden naturheilkundliche Selbsthilfestrategien sowie theoretische und praktische Inhalte aus den Bereichen Bewegung und Ernährung vermittelt [22].
Dem Essener teilstationären Konzept folgen auch die Angebote des Robert-Bosch-Krankenhauses Stuttgart und St. Franziskus-Hospital Münster. In Hamburg, Jena, Erlangen, Nürnberg, Hattingen und München wurden an den Universitätskliniken integrative Beratungszentren eingerichtet, in denen (in Kooperation/Absprache mit den rein konventionell arbeitenden Kollegen) komplementär-supportive Therapien angeboten werden.
Abgrenzung zur Rehabilitation
Das Konzept der Integrativen Medizin ist in mehreren Ebenen deutlich von rehabilitativen Behandlungsangeboten abgegrenzt. Hinsichtlich der Prozess- und Strukturqualität ergeben sich durch die Behandlungsdichte, die personellen Ressourcen, die diagnostischen und therapeutischen Leistungsmöglichkeiten signifikante Unterschiede. Entsprechend intensivierte diagnostische und therapeutische Behandlungsstrategien sind aktuell nicht in rehabilitativen Settings darstellbar und werden bundesweit nicht vorgehalten.
Inhaltlich ist für die Nutzung der Synergieeffekte, die sich aus der Integration der verschiedenen Therapiebereiche ergeben, ein eng vernetztes multidisziplinäres Behandlungsteam mit breiter Expertise notwendig. Eine Bedingung des Therapieerfolgs ist hierbei – im Gegensatz zur Rehabilitation – auch die kurzfristig adaptierte und engmaschig individualisierte Therapieabgleichung. Durch das engmaschige Monitoring des Behandlungserfolgs können die integrativen Behandlungsmöglichkeiten zeitnah optimiert werden. Parallel dazu werden durch die Kombination mit der Ordnungstherapie die jeweils spezifischen Möglichkeiten der gesundheitsfördernden Lebensstilmodifikation praktiziert und geschult. Ziele sind eine Steigerung der Eigenkompetenz des Patienten und eine bessere Nachhaltigkeit des Behandlungserfolgs, was bislang im rehabilitativen Ansatz nicht erreicht wird [25].
Elemente der physikalischen, der Bewegungs- und Ernährungstherapie kommen auch in der Rehabilitation zum Einsatz, werden aber im Kontext intensivierter und integrativer therapeutischer Vorgehensweise und unter Einbezug eines erweiterten Krankheitsverständnisses der Naturheilkunde und der Ordnungstherapie unterschiedlich eingesetzt.
Wirksamkeit
Dass die Integrative Medizin sowohl für die Patienten als auch für das Gesundheitssystem von Nutzen sein kann, konnte in der Zwischenzeit in klinischen und z. T. großen Beobachtungsstudien gezeigt werden. Beispielsweise zeigte sich bei 310 Rückenschmerzpatienten nach einem 14-tägigen stationären Aufenthalt in unserer Klinik, in der sie integrativmedizinisch behandelt worden waren, dass sowohl die Schmerzintensität und körperliche Beeinträchtigungen, aber auch die Depressivität und das Stressempfinden signifikant gesunken waren. Diese Verbesserungen zeigten sich jedoch teilweise abhängig von der Entwicklung ihrer Fähigkeit zur Änderung des Gesundheitsverhaltens, der Schmerzakzeptanz und der gesundheitlichen Zufriedenheit, was ein deutlicher Hinweis auf die Bedeutung eines ganzheitlichen, integrativen Behandlungsansatzes ist [23].
Die bislang größte Beobachtungsstudie zur Wirksamkeit integrativer Behandlung konnte kürzlich erste Daten publizieren: Fast 5000 ambulante Patienten an 17 integrativ-medizinischen Zentren wurden prospektiv mit dem PROMIS-29-Fragebogen befragt, der sowohl den körperlichen als auch den psychischen Gesundheitszustand erfasst [6]. Klinisch bedeutungsvolle Verbesserungen wurden nach 1 Jahr in den Summen-Scores zu mentaler und körperlicher Gesundheit erzielt; in den Subskalen ergab sich nur zu körperlicher Funktionsfähigkeit keine Signifikanz, aber die Besserungen von Schlaf, Depression, Angst, Fatigue, Schmerzbeeinträchtigung und sozialer Rolle waren hochsignifikant [11].
In der integrativen Onkologie ergeben die wissenschaftlichen Evaluationen anhaltende Verbesserungen der Lebensqualität sowie körperlicher (Fatigue, Insomnie, Obstipation) und psychischer Symptomatik (Angst, Depressivität). Es zeigten sich auch keine unerwünschten Ereignisse, die kausal mit der Intervention assoziiert werden konnten [9], [16]. Für Brustkrebspatientinnen unter Chemotherapie wurde ein teilstationäres, sehr flexibel auf die jeweiligen Bedürfnisse angepasstes Angebot evaluiert und erwies sich als sehr wirksam: Die erhobenen Daten zeigen, dass sich die Werte zu Fatigue, Nausea, Dyspnoe und Kognition zwar erwartungsgemäß unter der Chemotherapie verschlechterten. Signifikant verbesserten sich jedoch die psychischen Bereiche wie Stressempfinden, Ängstlichkeit und Depressivität sowie der Gesamtwert für Lebensqualität [15].
Das Gruppensetting als sozial unterstützendes Element scheint sich also zusätzlich positiv auf die Lebensqualität auszuwirken. In einigen Studien zeigte sich sogar ein signifikanter Überlebensvorteil für Krebspatienten, die engmaschig in Therapiegruppen begleitet wurden [17].
Kosteneffektivität
Eine Beobachtung von stationär integrativmedizinisch behandelten amerikanischen Schmerzpatienten konzentrierte sich neben der Schmerzreduktion auf die Behandlungskosten: Die Autoren schätzten eine mögliche Kostenreduktion auf knapp 900 Dollar pro Patient, die allein aus der erzielten Schmerzreduktion berechnet werden konnte [12].
In Korea wurden ca. 1200 Patienten, die mit akutem Schlaganfall in ein Krankenhaus eingeliefert worden waren, nach Sicherstellung der Vergleichbarkeit retrospektiv ausgewertet; 400 von ihnen hatten eine integrative Behandlung erhalten. Diese hatten einen längeren Krankenhausaufenthalt, folglich entstanden höhere Kosten, die Krankenhauswiederaufnahme in den ersten 3 Monaten wurde durch die integrative Behandlung auch nicht beeinflusst, aber die Gesamtmortalität – post 3 und 12 Monate – konnte durch die integrativen Behandlungen signifikant im Vergleich zur alleinigen konventionellen Behandlung gesenkt werden. Die Senkung der Sterblichkeit führt schlussendlich dann auch zu niedrigeren Gesamtkosten, da in vielen Fällen diese intensive, teure Behandlung nicht nötig wird [21].
Einen ganz konkreten Kostenvergleich konnte Ostermann et al. anhand der Abrechnungs- und Patientendaten von n = 1253 Patienten nach ihrem stationären integrativmedizinischen Klinikaufenthalt durchführen: Im Ergebnis glichen sich die Kosten der integrativen Behandlung mit denen anderer Abteilungen (12 Kliniken), insbesondere der anderen Abteilungen der Inneren Medizin – und das trotz des relativ langen Klinikaufenthalts und der engmaschigen, intensiven Betreuung [20].
Zusammenfassung
Zusammenfassend bietet der integrative Ansatz eine Erweiterung der konventionellen therapeutischen Ansätze durch den additiven und synergistisch wirkenden Einsatz naturheilkundlicher und seriöser komplementärer Behandlungsverfahren. Lebensstilmodifikation und Ordnungstherapie kommen in der vulnerablen stationären Phase intensiviert zum Einsatz und bilden die Grundlage des nachhaltigen Behandlungseffekts und der langfristigen eigenverantwortlichen Entchronifizierung des Patienten. Der integrative multidisziplinäre Ansatz kann damit eine therapeutische Lücke schließen und den sog. „Drehtüreffekt“ chronifiziert Kranker vermeiden.
Autorinnen und Autoren
Dr. phil. Petra Klose
ist seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin an den Evang. Kliniken Essen-Mitte (KEM) sowie dem Lehrstuhl für Naturheilkunde an der Universität Duisburg-Essen und seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Integrative Onkologie an den KEM. Schwerpunkte: universitäre Lehre, Forschungskoordination, systematische Literaturaufarbeitung, Leitlinienarbeit.
Dr. med. Marc Werner
studierte Medizin in Duisburg-Essen und in Siena (Italien). Nach der Facharztausbildung erfolgte der Wechsel in die Naturheilkunde & Integrative Medizin an den Evang. Kliniken Essen-Mitte (KEM); seit 2021 ist er dort Klinikdirektor. Parallel zur universitären Ausbildung erlangte er die Zusatzbezeichnungen spezielle Schmerztherapie, Akupunktur, Naturheilkunde, Chirotherapie/Manuelle Medizin/EROP-Diplom ärztliche Osteopathie sowie Master of Neuraltherapie DGfAN. Er verfolgt u. a. als Lehrbeauftragter für Naturheilkunde der Universität Duisburg-Essen die Integration der Naturheilkunde in die universitäre Ausbildung und leitliniengestützt in die klinische Versorgung in Deutschland. Besondere Schwerpunkte: Versorgung von chronischen internistischen Patient*innen und Schmerzbehandlungen.
Interessenkonflikt: Petra Klose gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Marc Werner gibt eine Gutachtertätigkeit für die Allianz SE sowie Referentenverträge mit Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH, Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co. KG und Dr. Loges + Co. KG an.
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