
„Viele Patientinnen und Patienten sprechen sehr gut auf pflanzliche Mittel an“, sagt Dr. Hartmut Dorstewitz.
Sie waren viele Jahre als Allgemeinarzt tätig. Warum haben Sie begonnen, Komplementärmedizin und Naturheilkunde einzusetzen?
Das hatte verschiedene Ursachen. Meine Großmutter und meine Mutter waren immer schon naturheilkundlich orientiert und haben uns Kinder in dieser Richtung behandelt.
Es gab aber ein weiteres Momentum: Mit 3 Jahren erkrankte ich schwer an Diphtherie. Im Krankenhaus erhielt ich eine Injektion in den Arm, die eine schwere Nekrose verursachte. Man hat wohl gedacht, dass ich das nicht überstehe, und deshalb auch nicht amputiert. Es war Krieg und wir lebten damals im Riesengebirge. Die Kräuterfrauen sammelten dann Heilpflanzen und behandelten mich damit. Und ich behielt meinen Arm und mein Leben. Vielleicht hat mich diese Erfahrung geprägt. Auf jeden Fall war ich immer schon ein bisschen naturheilkundlich angehaucht.
Mit welchen Verfahren haben Sie begonnen?
Ein befreundeter Klinik-Chefarzt hatte mir die Ozontherapie nähergebracht. Damit machte ich den Anfang. Dann absolvierte ich meine Ausbildung in der Neuraltherapie und übernahm sie in die Praxis. Ich war oft erstaunt über ihre gute Wirksamkeit, sodass ich sie immer weiter ausbaute.
Als Nächstes kamen die Pflanzenheilkunde und homöopathische Komplexmittel hinzu. Allerdings praktizierte ich die Homöopathie nie in der strengen Form. Einerseits war es mir zu aufwendig, andererseits bin ich von der Hochpotenz-Homöopathie bei Weitem nicht so überzeugt wie von der Phytotherapie.
Darauf folgte die mikrobiologische Therapie, also die Behandlung mit Bakterien.
Welche Reaktionen gab es auf Ihre zunehmend naturheilkundliche Praxisausrichtung?
Damals wurde ich von den Kollegen und Kolleginnen belächelt. Aber meine Erfahrung hat mir gezeigt: Die Therapien helfen sehr gut. Vieles steckte damals noch in den Kinderschuhen, und auch ich hatte Berührungsängste. Als ich 1975 meine Praxis eröffnete, habe ich versucht, es neben meiner Allgemeinpraxis nicht an die große Glocke zu hängen. Ich wusste nicht, wie es von den Patientinnen und Patienten aufgenommen wird. Aber irgendwann hat sich die Klientel in meiner Praxis immer mehr umgeschichtet – von der üblichen Allgemeinmedizin hin zur spezialisierten komplementärmedizinischen Praxis. Das zog sich als roter Faden durch mein Leben.
Dann hat die Naturheilkunde in Ihrer täglichen Praxis eine sehr große Rolle gespielt?
Ja, absolut. Das war auch mein Anspruch. Ich habe es mal überschlagen: Bei den Kindern hat die Naturheilkunde rund 60 Prozent ausgemacht, die Schulmedizin 40 Prozent. Bei den Erwachsenen war es ein bisschen weniger, ich schätze 60 Prozent Schulmedizin und 40 Prozent Komplementärmedizin. Heute habe ich nur noch eine kleine Privatpraxis, da behandle ich zu 100 Prozent mit Komplementärmedizin.
Dr. med. Hartmut Dorstewitz

Hartmut Dorstewitz ist Allgemeinarzt und war viele Jahre in eigener Kassenpraxis mit komplementärmedizinischem Schwerpunkt niedergelassen. Er ist als Dozent für die Ärztegesellschaft für Präventionsmedizin und klassische Naturheilverfahren tätig, vorwiegend im Bereich Phytotherapie. Außerdem ist Dorstewitz Ehrenvorsitzender des Arbeitskreises für Mikrobiologische Therapie.
Gibt es aus Ihrer Sicht Verfahren, die besonders wirksam sind?
Bei mir haben sich die Phytotherapie und die mikrobiologische Therapie am meisten bewährt. Interessanterweise sind das auch die Verfahren, für die sich die Teilnehmer in meinen Kursen am meisten interessieren.
Aber auch mit der Ozon-Sauerstoff-Therapie hatte ich wunderbare Erfolge, z.B. bei Durchblutungsstörungen oder begleitend in der Krebsbehandlung.
Haben Sie ein Beispiel aus dem Magen-Darm-Bereich?
Bei Erkrankungen aus dem Magen-Darm-Bereich stehen bei mir mikrobiologische Diagnostik und Therapie im Zentrum. Der Magen-Darm-Trakt als größtes Hohlorgan ist auch unser größtes Regulationsorgan. Ich selbst habe damit viel Erfahrung gesammelt und an meine Patientinnen und Patienten weitergegeben, z.B. bei Reizdarm oder chronisch entzündlichen Darmerkrankungen.
Ich erinnere mich z.B. an einen Patienten mit schwerem Morbus Crohn, der ständig mit Remicade-Infusionen behandelt wurde. Er musste seinen Beruf aufgeben. Ich behandelte ihn intensiv mit mikrobiologischer Therapie, Ozontherapie, Phytotherapie und Akupunktur. Dann ging es mit ihm bergauf. Wir konnten Beschwerdefreiheit erreichen, die offenbar bis heute anhält. Sein Vater hat mir berichtet, dass der Sohn völlig beschwerdefrei ist, aber die Therapie beibehält.
Hatten Sie eine Kassenpraxis oder eine Privatpraxis?
Ich hatte eine Kassenpraxis. Das war eine bewusste Entscheidung. Meine Patienten waren Bundesbahnbeamte, junge Familien, Jungakademikerinnen, Bauern. Bei mir waren alle Generationen in Behandlung und sehr viele Kinder. Ich wollte keine elitäre Praxis, sondern dass alle Bevölkerungsschichten die gleiche Medizin bekommen. Die armen Rentner genauso wie ein wohlhabender Freiberufler. Das hat sich bewährt.
Man muss mehr Geduld haben. Manchmal dauert es ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen.
Welche Naturheilverfahren lassen sich in einer hausärztlichen (Kassen-)Praxis gut anwenden?
Viele Patientinnen sprechen z.B. sehr gut auf pflanzliche Mittel an. Damit kann man direkt nach einem Fortbildungskurs am Montag in der Praxis loslegen. Aber auch die mikrobiologische Therapie mit Probiotika lässt sich rasch anwenden. Das Einzige: Man muss mehr Geduld haben. Man darf nicht erwarten, dass die Beschwerden wie bei einem um 9 Uhr eingenommenen Aspirin um 10 Uhr verschwunden sind. Manchmal dauert es ein paar Tage, manchmal ein paar Wochen.
Viele Patienten sind bereits motiviert: Sie kommen mit dem Wissen in die Praxis, dass sie einen Teil der Behandlung selbst zahlen müssen. Andere lassen sich motivieren, etwa wenn sie schon bei vielen Ärzten waren und die Behandlungen nicht zum Erfolg geführt haben.
Bei welchen Verfahren ist es schwieriger?
Ich erlebe immer wieder Vorbehalte bei der Eigenbluttherapie. Bei den Ärztinnen und Ärzten sind es oft Befürchtungen, die die Hygiene betreffen. Da muss ich öfter überzeugen, dass die Therapie sauber, hygienisch und leicht durchzuführen ist. Die Patienten und Patientinnen überlegen eher, ob sie die Spritzen ertragen möchten.
Machen wir es noch mal konkret: Wie behandeln Sie naturheilkundlich einen Patienten mit Heuschnupfen?
Wenn ich weiß, dass der Patient z.B. allergisch auf Frühblüher reagiert, empfehle ich ihm, 4 bis 6 Wochen vor dem erwarteten Heuschnupfenausbruch zur Behandlung zu kommen, also ca. Ende Januar/Anfang Februar.
Ich verschreibe ihm zunächst ein Phytotherapeutikum zum Einnehmen, da hat sich ein Präparat aus der Tragantwurzel gut bewährt. Das empfehle ich schon einzunehmen, bis die ersten Beschwerden kommen. Dann verdoppeln wir die Dosis. In der gleichen Zeit verschreibe ich meist auch ein mikrobiologisches Präparat mit Enterokokken, Colibakterien und Bifidobakterien, damit sich die Darmflora umstellen kann und die Allergiebereitschaft zurückgeht. Kommen dann die ersten Beschwerden wie eine juckende Nase, empfehle ich eine Eigenblutbehandlung 2 × pro Woche. Dazu kommt noch einmal pro Woche Ohr- und Gesichtsakupunktur, womit man einen Umstimmungseffekt hervorrufen kann. Das ist bei Heuschnupfen-Patienten oft hilfreich.
Wie lange hält der Behandlungserfolg an, muss jedes Jahr therapiert werden?
Das ist unterschiedlich. In manchen Jahren ist der Pollenflug sehr stark, dann komme ich nicht ganz ohne Antihistaminika und Steroide aus. Das kann in Jahren mit geringerem Pollenflug anders sein. Ich habe Fälle, bei denen ich die Therapie ein paar Jahre durchgeführt habe. Bei vielen dieser Patienten sind die Heuschnupfensymptome inzwischen weniger stark ausgeprägt. Einige berichten, dass sie nahezu frei von ihrer Allergie sind.
Ein Patient brachte uns mal einen riesigen Fliederstrauß und sagte: Früher hätte ich nicht mal die Nase in die Nähe bringen dürfen, ohne Niesanfälle zu haben. Auch so etwas gibt es.
Welche Herausforderungen begegnen Ihnen in der Praxis?
Natürlich gab es auch Misserfolge. Zum Beispiel, wenn die Therapie nicht angeschlagen hat oder Patienten nicht die Geduld hatten, bis zum Ende mitzuziehen, und frühzeitig aufgaben. Das gibt es auch heute noch. Nicht jede Therapie ist für jeden gut geeignet.
Heute praktiziere ich nur noch in einer kleinen Privatpraxis. Wenn mich Patienten oder Patientinnen anrufen und mir ihr Problem schildern, steuere ich vor: Kann ich das in meinem kleinen Praxisraum bewältigen? Kann ich das behandeln? Kann ich aus meinem Fachgebiet etwas beitragen?
Gerade hatte ich einen Patienten mit metastasiertem Prostatakarzinom, der kürzlich verstorben ist. Ich habe ihn mit Mistelextrakten, immunaktivierenden Infusionen und Ozon-Sauerstoff behandelt. Er konnte bis zuletzt im Kreise seiner Familie sein und sagen: Mein Leben ist lebenswert.
Als Sie 1975 Ihre Praxis eröffnet haben, gab es viel weniger Forschung zu Naturheilverfahren als heute. Gibt es aus Ihrer Sicht Verfahren mit vielen positiven Erfahrungen, aber negativer wissenschaftlicher Bewertung?
Ja. Ein Beispiel ist die Homöopathie. Sie ringt um Anerkennung und bleibt wahrscheinlich noch lange eine Erfahrungsheilkunde. Die Ansätze für eine wissenschaftliche Beweisführung sind so vage, dass man daraus keine wissenschaftsorientierte Therapie machen kann. Vielleicht wird über die Nanotechnik ein Erklärungsansatz möglich.
Aber wir müssen zwischen der Niederpotenz- und der Hochpotenz-Homöopathie trennen. Je höher ich verdünne, desto mehr bin ich im Vagen, also im nicht mehr wissenschaftlichen Bereich. Je niedriger die Potenz, also je höher der Urstoffgehalt der Mittel, desto näher ist man z.B. im substanziell phytotherapeutischen Bereich. Ich denke, in diesem Bereich könnte es Ansatzmöglichkeiten für die Wissenschaft geben.
Ein anderes Beispiel ist die Neuraltherapie. Damit hatte ich oft ausgesprochen gute Behandlungsergebnisse. Ich erinnere mich an einen 11-jährigen Jungen mit okzipitaler Migräne. Schon bei der ersten neuraltherapeutischen Behandlung konnte ich ihm sehr schnell helfen. Mit 2 weiteren Behandlungen konnten wir seine Schmerzen nachhaltig lindern.
Achtzig Prozent der Menschen erwarten von uns Ärzten eine kompetente, positive Einstellung zur Naturheilkunde.
Was würden Sie jungen Kolleginnen und Kollegen sagen, warum es sich lohnt, Naturheilkunde und Komplementärmedizin in der Praxis einzusetzen?
Diese Frage ist schnell beantwortet. Achtzig Prozent der Menschen erwarten von uns Ärzten eine kompetente, positive Einstellung zur Naturheilkunde. Sie möchten Komplementärmedizin, die natürlich nicht immer nur sanft ist. Zum anderen ist es befriedigender für einen selbst. Wenn ich immer aufwendigere diagnostische Maßnahmen ergreife, mit den immer gleichen Diagnosen, ist das therapeutische Arsenal sehr schnell erschöpft. Als Arzt möchte man auch über den Tellerrand schauen, um zu sehen, was andere Therapieformen im Organismus bewirken können.
Ich denke, damit kann man junge Ärztinnen und Ärzte zum Ergänzen motivieren. Komplementär bedeutet ja ergänzend.
Welche Therapieverfahren eignen sich aus Ihrer Sicht gut für Einsteiger?
Ganz klar die Phytotherapie. Es gibt in diesem Bereich viele bewährte und gut evidenzbasierte Fertigpräparate, z.B. aus Johanniskraut, Weißdorn oder Ginkgo. Damit kann man sofort anfangen, wenn man die Geduld aufbringt, bis die Wirkung eintritt. Ein gutes Beispiel sind auch Phytotherapeutika im Klimakterium, die man zunächst anstatt einer Hormonersatztherapie einsetzen kann. Meine zweite Empfehlung sind die Probiotika. Auch in diesem Bereich ist die wissenschaftliche Lage heute sehr gut.
Damit kann manches Antibiotikum ersetzt werden, z.B. durch Meerrettich oder Kapuzinerkresse, aber auch durch Enterokokken und Colibakterien. Das würde ich jungen Kolleginnen und Kollegen ans Herz legen.
Eine Praxis bedeutet auch viel Arbeit. Wie ist es Ihnen gelungen, sich vor einem Burn-out zu schützen?
Als ich begonnen habe, gab es den Begriff Burn-out noch gar nicht. Dass ich meine eigene Praxis hatte, mit der ich meine Familie ernähren konnte, hat mich ausgesprochen motiviert. Ich hatte lieber zu viel als zu wenig Arbeit. Allerdings war immer mein Plan, frühzeitig aufzuhören. Das habe ich mit etwa 60 Jahren auch getan. Seitdem halte ich noch Vorträge und Seminare und führe eine kleine Privatpraxis. Ich denke, das hat mir gutgetan.
Ich sage meinen Patienten oft: Machen Sie es wie Ihr Herz. In der Systole kontrahiert es mit jeder Muskelfaser, in der Diastole erschlafft es. Diese Rhythmik von Anspannen und Erholen war mir sehr wichtig. Das bedeutet auch, die richtige Ernährung, immer wenn es möglich ist Bewegung, mentaler Ausgleich und man muss Spaß am Job haben. Ich denke, das ist wichtig.
Das Gespräch führte Anke Niklas.