Kopfschmerzen, Gedächtnisprobleme, Fatigue gehören zu den neurologischen Beeinträchtigungen, die während einer Corona-Infektion auftreten und danach andauern können. Schon während der Pandemie wurde vermutet, dass eine direkte Infektion des Gehirns die Ursache dafür sein könnte. Forschende fanden nun Anhaltspunkte für eine andere These:
Die neurologischen Symptome könnten eine Nebenwirkung der starken Immunreaktion des Körper gegen das Virus sein.
Vergangene Studien hatten auch dafür Anhaltspunkte geliefert. Eine aktuelle Charité-Arbeit untermauert diese Theorie mit molekularbiologischen und anatomischen Ergebnissen aus Autopsie-Untersuchungen.
„Auch wir sind von dieser These zunächst ausgegangen. Einen eindeutigen Beleg dafür, dass das Coronavirus im Gehirn überdauern oder sich gar vermehren kann, gibt es allerdings bislang nicht“, erklärt Dr. Helena Radbruch von der Arbeitsgruppe Chronische Neuroinflammation der Charité. „Dazu wäre z.B. ein Nachweis intakter Viruspartikel im Gehirn nötig. Die Hinweise, dass das Coronavirus das Gehirn befallen könnte, stammen stattdessen aus indirekten Testverfahren und sind deshalb nicht ganz stichhaltig.“
Keine Anzeichen einer direkten Infektion des Gehirns
Für die Studie analysierte das Forschungsteam verschiedene Bereiche des Gehirns von 21 Menschen. Sie waren aufgrund einer schweren Corona-Infektion im Krankenhaus verstorben. Zum Vergleich zog das Team 9 Patient*innen heran, die nach intensivmedizinischer Behandlung anderen Erkrankungen erlegen waren.
Die Forschenden prüften zunächst, ob das Gewebe sichtbare Veränderungen aufwies, und suchten nach Hinweisen auf das Coronavirus. Dann ermittelten sie durch die detaillierte Analyse von Genen und Proteinen, welche Vorgänge in einzelnen Zellen vonstattengingen.
Die Charité-Wissenschaftler*innen konnten in einigen Fällen das Erbgut des Coronavirus im Gehirn nachweisen. „SARS-CoV-2-infizierte Nervenzellen haben wir jedoch nicht gefunden“, betont Helena Radbruch. „Wir gehen davon aus, dass Immunzellen das Virus im Körper aufgenommen haben und dann ins Gehirn gewandert sind. Sie tragen noch immer Virus in sich, es infiziert aber keine Gehirnzellen. Das Coronavirus hat also andere Zellen des Körpers, nicht aber das Gehirn befallen.“
Gehirn reagiert auf Entzündung im Körper
Dennoch beobachteten die Forschenden, dass bei den COVID-19-Betroffenen die molekularen Vorgänge in manchen Zellen des Gehirns auffällig verändert waren: Die Zellen fuhren z.B. den sog. Interferon-Signalweg hoch, der typischerweise im Zuge einer viralen Infektion aktiviert wird. Prof. Christian Conrad von der Arbeitsgruppe Intelligent Imaging der Charité berichtet:
„Einige Nervenzellen reagieren offenbar auf die Entzündung im Rest des Körpers. Diese molekulare Reaktion könnte die neurologischen Beschwerden von COVID-19-Betroffenen gut erklären. Zum Beispiel können Botenstoffe, die diese Zellen im Hirnstamm ausschütten, Fatigue verursachen. Denn im Hirnstamm liegen Zellgruppen, die Antrieb, Motivation und Stimmungslage steuern.“
Die reaktiven Nervenzellen fanden sich hauptsächlich in den Kernen des Vagusnervs, den Nervenzellen, die im Hirnstamm sitzen und deren Fortsätze bis in Organe wie Lunge, Darm und Herz reichen. „Vereinfacht interpretieren wir unsere Daten so, dass der Vagusnerv die Entzündungsreaktion in unterschiedlichen Organen des Körpers ‚spürt‘ und darauf im Hirnstamm reagiert – ganz ohne eine echte Infektion von Hirngewebe“, resümiert Helena Radbruch. „Auf diese Weise überträgt sich die Entzündung gewissermaßen aus dem Körper ins Gehirn, was dessen Funktion stören kann.“
Zeitlich begrenzte Reaktion
Die Nervenzellen reagieren dabei nur vorübergehend auf die Entzündung. Das zeigte ein Vergleich von Menschen, die entweder während der akuten Corona-Infektion oder erst mindestens 2 Wochen danach verstorben waren. Am stärksten ausgeprägt während der akuten Erkrankung, normalisierten sich die molekularen Veränderungen anschließend wieder – jedenfalls in den allermeisten Fällen.
„Wir halten es für möglich, dass eine Chronifizierung der Entzündung bei manchen Menschen für die oft beobachteten neurologischen Symptome bei Long COVID verantwortlich sein könnte“, sagt Christian Conrad. Um dieser Vermutung weiter nachzugehen, plant das Forschungsteam nun, die molekularen Signaturen im Hirnwasser von Long-COVID-Patient*innen genauer zu untersuchen.
Quelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin
Literatur
Radke J et al. Proteomic and transcriptomic profiling of brainstem, cerebellum, and olfactory tissues in early- and late-phase COVID-19. Nat Neurosci 2024; doi: 10.1038/s41593-024-01573-y