Künstliche Intelligenz„KI entwickelt sich schneller als jede andere Technologie in der Medizin“

Wie Künstliche Intelligenz die Komplementärmedizin verbessern könnte, ohne menschliche Werte und Bedürfnisse einzubüßen. Ein Gespräch mit Prof. Claudia Witt.

Handschlag einer KI-Hand aus Laptop heraus
svetazi/stock.adobe.com

Diagnosen aus komplexen Daten erstellen, Therapieansätze virtuell testen, Arztbriefe verfassen, Fälschungen in der Forschung aufdecken. Künstliche Intelligenz (KI) kann die Komplementärmedizin verbessern, ohne menschliche Werte und Bedürfnisse einzubüßen.

In welchen Bereichen sehen Sie ganz allgemein die Chancen von KI in der Komplementärmedizin?

Künstliche Intelligenz (KI) bietet auch in der Komplementärmedizin viel Potenzial, insbesondere bei der Analyse großer Datenmengen, der Individualisierung von Behandlungsplänen und der Optimierung von Diagnosen, inkl. Diagnosen in traditionellen Therapiesystemen. Sie könnte aber auch helfen, vielseitige Informationen zu Patient*innen effizient zu dokumentieren und Zusammenhänge sichtbar zu machen, um eine ganzheitliche Behandlung zu ermöglichen.

Weshalb engagieren Sie sich zu KI?

Mir ist es wichtig, dass wir auf die Medizin der Zukunft vorbereitet sind, auch diejenigen, die in der Komplementärmedizin arbeiten – denn KI ist anders. Langfristig kann KI jede Aufgabe bewältigen, die menschliches Denken erfordert.

Die Möglichkeiten sind so weitreichend, dass es unmöglich ist, ihr Potenzial vollständig zu überblicken. KI entwickelt sich schneller als jede andere Technologie in der Medizin, die wir bisher gesehen haben. Das Thema KI ist so breit – es wird keine einzelnen KI-Expert*innen geben, sondern eher ein kollektives Wissen.

Machen wir es gleich ein bisschen konkret: Haben Sie ein Beispiel für einen möglichen KI-Anwendungsfall im Bereich der TCM?

Eine systematische Übersichtsarbeit zeigt, dass der Großteil der Veröffentlichungen zu KI und Komplementärmedizin aus Asien stammt. In einer koreanischen Studie wurde KI z.B. verwendet, um basierend auf Krankheitssymptomen gezielt Akupunkturpunkte vorzuschlagen.

Eine weitere Studie aus Taiwan demonstrierte, wie KI bei der Auswahl der Bestandteile von Arzneimittelrezepturen unterstützend eingesetzt werden kann.

Welche Chancen könnte KI gerade im Bereich der TCM mit ihrer umfangreichen und individuellen Diagnostik bieten?

KI kann dabei helfen, Diagnosen aus komplexen Daten wie Anamnese, Puls- oder Zungendiagnosen zu erstellen und personalisierte Behandlungsansätze zu entwickeln, die auf individuelle Patientendaten abgestimmt sind. Dazu gehört die Erstellung maßgeschneiderter Arzneimittelrezepturen und die Auswahl geeigneter Akupunkturpunkte.

Zudem kann KI Wechselwirkungen von Arzneimitteln prüfen, um die Sicherheit der Behandlungen zu verbessern.

Wie könnte KI in der Therapie unterstützen?

Es gibt viele Möglichkeiten. KI kann z.B. verwendet werden, um Behandlungen zu simulieren, indem sie patientenspezifische Daten analysiert und verschiedene Therapieansätze virtuell testet. So können potenzielle Ergebnisse vorhergesagt und Behandlungen vorab optimiert werden. Sie kann aber auch genutzt werden, um Therapieverläufe besser zu überwachen und Therapiepläne frühzeitig anzupassen.

Prof. Dr. med. Claudia M. Witt ist Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich und Co-Direktorin der Digital Society Initiative der Universität Zürich.

Sie beschäftigt sich u.a. mit strategischen Fragen zur Anwendung von KI in der Komplementärmedizin, mit Datenstandards und Empfehlungen für den KI-Einsatz in der Akupunktur sowie mit Zukunftsszenarien wie dem digitalen Zwilling in der Medizin.

Im Projekt TARA (Topological Atlas and Repository for Acupoint research) wird eine Datenbank für Akupunkturpunkte und verwandte Daten entwickelt. Was sind hier aktuell die Ziele und Herausforderungen?

Das Ziel des von den National Institutes of Health in den USA geförderten Projekts TARA ist die Schaffung einer webbasierten Open-Access-Datenbank, die Akupunkturpunkte durch eine Kombination aus traditioneller und moderner anatomischer Nomenklatur systematisiert. Dabei werden vielseitige Forschungsdaten integriert. Dies soll die biologischen Grundlagen von Akupunkturpunkten stärken und die Integration von Akupunktur in die klinische Versorgung fördern. Die Plattform soll eine leicht durchsuchbare Datenbank mit 3D-Atlanten und relevanten physiologischen Daten bieten.

Zu den Herausforderungen gehört wie bei vielen Datenbanken, die Standards zu definieren und die vorhandenen Daten aus verschiedenen Quellen zu integrieren. Zudem ist es wichtig, dass die Datenbank userfreundlich ist. Das Projektteam hat deshalb viele Interviews mit Akupunkteur*innen und Expert*innen geführt.

Wozu könnten die Daten aus TARA für die KI nutzbar gemacht werden? Und was wären mögliche Anwendungsfelder für Akupunkteur*innen?

Die Daten aus TARA könnten genutzt werden, um zukünftige Forschung systematischer durchzuführen, aber auch um individualisierte Akupunkturbehandlungen zu optimieren. KI könnte die Auswahl der Akupunkturpunkte unterstützen und optimieren.

KI könnte Behandlungen simulieren, indem sie Patientendaten analysiert und verschiedene Therapieansätze virtuell testet.

KI lebt von Daten. Welche offenen Fragen sind hier noch zu beantworten, z.B. in puncto Anforderungen, Sicherheit und Standardisierung?

Offene Fragen in der gesamten Medizin betreffen vor allem die Standardisierung der Datenerfassung, einschließlich der Datenbeschriftung (Labelling), die Qualitätssicherung sowie den Datenschutz und das Dateneigentum. Zudem müssen ethische Fragen geklärt werden, insbesondere wie sichergestellt wird, dass KI-Anwendungen den Patient*innen zugutekommen, ohne neue Risiken zu schaffen.

Für die Komplementärmedizin ist besonders wichtig, dass ausreichend nutzbare Daten für die KI verfügbar sind und integriert werden. Andernfalls werden zukünftige Algorithmen keine komplementärmedizinischen Therapievorschläge machen können, da KI nur das empfehlen kann, was sie anhand vorhandener Daten gelernt hat.

Was sind aus Ihrer Sicht wichtige Forschungsthemen im Bereich KI und Komplementärmedizin?

Im Mittelpunkt steht für mich, wie wir KI sinnvoll mit der Komplementärmedizin verknüpfen können. Dazu gehören auch Fragen zur Integration von KI in Behandlungsteams und wie das die Zusammenarbeit beeinflusst. Ein zentraler Aspekt dabei sind die Verfügbarkeit und Integration von komplementärmedizinischen Behandlungsdaten.

Zudem sind Studien zu KI-Algorithmen entscheidend, die sowohl die Diagnostik als auch individualisierte Therapien unterstützen.

Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich?

Wir implementieren KI beispielsweise in die Lehre und Evidenzsynthese und evaluieren diese Anwendungen. Viele meiner Arbeiten sind strategisch ausgerichtet. In der Special Interest Group AI & Digitalization der Society for Acupuncture Research entwickeln wir konkret Datenstandards und Empfehlungen für den Einsatz von KI in der Akupunktur.

An der Digital Society Initiative der Universität Zürich erarbeiten wir Zukunftsszenarien, wie z.B. den Einsatz von digitalen Zwillingen in der Medizin. Ein digitaler Zwilling ist eine softwarebasierte Nachbildung des menschlichen Körpers und Gesundheitszustands, die auf realen Daten basiert und zur Simulation von Therapien und Risikoabschätzungen genutzt werden kann.

Unser Ziel ist es, Empfehlungen zu entwickeln, die einen zukunftsorientierten Prozess anstoßen. Zudem ist es mir wichtig, dass möglichst viele Menschen ein tieferes Verständnis für KI in der Medizin entwickeln, weshalb ich regelmäßig Vorträge zu diesem Thema halte.

Ein vollständiger Ersatz des Behandlers durch KI ist sehr unwahrscheinlich, da die menschliche Komponente in der Arzt-Patienten-Beziehung und individuelle Expertise weiterhin zentral sind.

Könnte KI künftig in ausgewählten Bereichen den Arzt/die Ärztin ersetzen und so entlasten? Was wäre aus Ihrer Sicht vorstellbar?

KI kann den Arzt oder die Ärztin vielseitig unterstützen, etwa beim Verfassen von Arztbriefen und bei anderer Dokumentation. Sie kann Diagnostik verbessern und durch die Analyse großer Datenmengen individualisierte Therapievorschläge machen. Ein vollständiger Ersatz ist jedoch sehr unwahrscheinlich, da die menschliche Komponente in der Arzt-Patient-Beziehung und die individuelle Expertise weiterhin zentral sind.

Aus meiner Sicht brauchen wir eine Zukunft, in der die Gesundheitsversorgung auf menschliche Bedürfnisse und Werte ausgerichtet ist und eine sinnvolle, symbiotische Beziehung zwischen Mensch und KI fördert. Daher müssen wir zu einem Gesundheitssystem beitragen, das Technologie nutzt, um das Wohlbefinden zu steigern, ohne dabei das zu verlieren, was uns menschlich macht.

Wie könnte die KI Fälschungen oder Fehler in Forschungsarbeiten aufdecken?

KI kann helfen, durch automatisierte Text-, Bild- und andere Datenanalyse auffällige Muster oder statistische Unstimmigkeiten in Forschungsarbeiten zu erkennen. Dies könnte dabei unterstützen, Fälschungen zu identifizieren, Fehler zu finden und die Qualität der Studienergebnisse zu überprüfen. Es ist weniger Aufwand, KI dafür einzusetzen, als dies herkömmlich anzugehen. Aber natürlich macht auch die KI Fehler, und man muss darauf achten, dass in Zukunft keine Welle von falschen Anschuldigungen entsteht.

Ich könnte mir vorstellen, dass Ärzt*innen und auch Patient*innen KI in der Komplementärmedizin noch skeptisch gegenüberstehen. Was sind aus Ihrer Erfahrung die größten Befürchtungen?

Forschung zur Zusammenarbeit von Menschen mit KI zeigt, dass Vertrauen eine ganz wichtige Rolle spielt. Die größten Befürchtungen betreffen oft die Sorge, dass KI die persönliche Arzt-Patient-Beziehung verändern oder irgendwann sogar ersetzen könnte. Zudem sind Entscheidungen der KI gerade bei den Algorithmen mit sogenannten tiefen neuronalen Netzwerken nicht mehr im Detail nachvollziehbar. Häufige Bedenken betreffen den Datenschutz und die Qualität der von KI generierten Empfehlungen.

Haben Sie eine Empfehlung, womit man einsteigen könnte, wenn man sich näher mit dem Thema KI und Medizin beschäftigen möchte?

Ich empfehle immer: ausprobieren, Erfahrungen sammeln und kritisch reflektieren.

Sprachmodelle wie ChatGPT kann man unkompliziert testen, allerdings sollte man darauf achten, keine datenschutzrelevanten Informationen einzugeben. Eine gute Einführung in die Funktionsweise von KI und ihre Bedeutung für den ärztlichen Alltag bietet die FMH (Berufsverband der Schweizer Ärztinnen und Ärzte) in einer übersichtlichen Broschüre, die hier heruntergeladen werden kann: https://www.fmh.ch/files/pdf27/20220914_fmh_brosch-ki_d.pdf

Das Interview führte Anke Niklas.