Interview"Wir bieten eine evidenzbasierte Naturheilkunde an"

Seit 2015 gibt es am Stuttgarter Robert Bosch Krankenhaus die Abteilung für Naturheilkunde und Integrative Medizin. Ein Gespräch mit Dr. Marcela Winkler über die Möglichkeiten der Integrativen Medizin.

getrocknete Blüten in Holzschälchen und Braunfläschchen auf Holztisch
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Frage: Sie sind Fachärztin für Allgemeinmedizin. Was hat Sie bewogen, sich in die integrativmedizinische Richtung zu entwickeln?

Dr. Marcela Winkler: Mein Beruf ist für mich Berufung. Mir war sehr früh klar: Ich möchte Medizin studieren. Schon zu Beginn meines Studiums stellte ich fest, dass wir therapeutisch oft mit bestimmten Antieffekten arbeiten, z.B. bei arterieller Hypertonie ein Antihypertensivum geben. Ich beobachtete aber, dass das allein oft nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Bei der Entstehung chronischer Krankheiten spielen ja viele Faktoren eine Rolle, z.B. die Ernährung oder das Gewicht. Also wollte ich auch nach anderen, ergänzenden therapeutischen Ansätzen suchen. Durch eine Freundin und Kollegin, die sich im Bereich Akupunktur und Naturheilkunde fortgebildet hat, bin ich in Kontakt mit komplementären Therapieverfahren gekommen und habe parallel zum Studium mit der Akupunktur- und TCM-Ausbildung begonnen.

Was schätzen Sie an der Naturheilkunde?

Ihr Wert liegt in ihrem besonderen Einsatz und ihrem salutogenetischen Konzept: Es werden Reize gesetzt, um einen natürlichen Prozess zu unterstützen. Das finde ich sehr sinnvoll und wichtig. Es bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch die konventionelle Medizin wertschätze. Wie wäre unser Leben ohne Notaufnahme oder Chirurgie? Deswegen ist es ein Miteinander. So wie beispielsweise gute Chirurgen ihrer Berufung folgen, habe ich die Entscheidung getroffen, einen anderen Teil der Medizin zu vertreten. Wir sind gemeinsam mit unterschiedlichen Kompetenzen für die Patient*innen da.

"Wir sind gemeinsam mit unterschiedlichen Kompetenzen für die Patient*innen da."

Sie leiten die Abteilung Naturheilkunde und Integrative Medizin am Robert Bosch Krankenhaus. Wie lange gibt es die Abteilung schon? Und was war die Idee, sie zu gründen?

Die Abteilung wurde 2015 aufgebaut. Als das Robert Bosch Krankenhaus gegründet wurde, war es ein homöopathisches Krankenhaus. Es hat sich dann zu einem klassischen wissenschaftlich orientierten akademischen Krankenhaus entwickelt und die Homöopathie spielte keine Rolle mehr. Zum 100-jährigen Jubiläum hat man sich wieder an die Gründungsidee erinnert, die Kolleg*innen waren dafür offen und es gab zunehmend Nachfragen von Patient*innen für Komplementärmedizin. Das hat dazu geführt, die Abteilung zu gründen.

Gab es Vorbilder?

Die Abteilung wurde in Kooperation mit Prof. Gustav Dobos von der Universität Duisburg-Essen aufgebaut. Er hatte den ersten Lehrstuhl für Naturheilkunde in Deutschland und hat vor mittlerweile 25 Jahren eine Abteilung mit etwa 50 Betten ins Leben gerufen. Er entwickelte das sog. Essener Modell, in dem Elemente aus den USA und aus China eingeflossen sind. Inzwischen ist das Essener Modell evidenzbasiert.

Natürlich haben wir auch eigene Erfahrungen und Therapieverfahren mit einfließen lassen, aber bestimmte Teile des Essener Modells haben wir 1 : 1 übernommen. Auch weil die Evidenz vorliegt. Wir möchten hier eine möglichst evidenzbasierte Naturheilkunde anbieten.

Wenn man hier durch die Gänge läuft, wirkt die Abteilung recht groß. Wie war es zu Anfang?

Als wir begonnen haben, waren wir zu dritt. Heute sind wir 18 Köpfe. Wir verfügen über 6 Behandlungsräume plus Anmeldung und Wartebereich. Die Büro- und Gruppentherapieräume sind gemeinsame Räume, die wir im Haus mitbenutzen. Die Abteilung ist seit der Gründung nicht physisch, aber vom Angebot und den Mitarbeiter*innen her gewachsen.

Inzwischen betreuen wir Patient*innen ambulant, stationär und in der onkologischen Tagesklinik. Zudem bieten wir für Patient*innen Kurse aus dem Bereich der Mind-Body-Medizin an.

Dr. med. Marcela Winkler ist Fachärztin für Allgemeinmedizin mit Zusatzbezeichnungen für Naturheilverfahren, spezielle Schmerztherapie, Mind-Body-Medizin, Akupunktur und Palliativmedizin. Sie promovierte zum Thema „Wirksamkeit und Sicherheit von achtsamkeitsbasierten Interventionen bei Frauen mit Brustkrebs“. Seit 2017 leitet sie die Abteilung für Naturheilkunde und Integrative Medizin des Robert Bosch Krankenhauses in Stuttgart und ist ärztliche Leiterin des Robert Bosch Centrum für Integrative Medizin und Gesundheit.

Was sind Behandlungsschwerpunkte?

Anfangs haben wir bewusst die Onkologie als Schwerpunkt gewählt, weil es einen besonders großen Bedarf vonseiten der Patient*innen gab. Und die integrative Onkologie ist innerhalb der integrativen Medizin derjenige Teil, der die wohl größte Entwicklung in der Evidenz gezeigt hat. Auch die Erfahrung in der Onkologie insgesamt ist sehr gewachsen.

Wir betreuen zu etwa 90 % onkologische Patient*innen. Aber prinzipiell sind wir für alle Fachbereiche da. Integrative Medizin spielt ja auch in der Prävention und v.a. bei chronischen Erkrankungen eine wichtige Rolle.

Welche Therapieverfahren bieten Sie an?

Wir sind breit aufgestellt und behandeln mit Phytotherapie, Hydrotherapie, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie, Yoga, Qigong, Akupunktur, Akupressur, Ohrakupunktur, Ohrakupressur, pflegerische Anwendungen in Form von rhythmischen Einreibungen, medizinische Aromatherapie, Mind-Body-Medizin in Form von Achtsamkeitsübungen, Coaching zu Lebensstilveränderungen.

Sie bieten u.a. ein Kompaktprogramm für Krebspatient*innen an. Was beinhaltet das?

Es ist nicht nur für onkologische Patient*innen, es eignet sich auch für andere chronisch kranke Menschen.

Die Kurse des Kompaktprogramms finden in geschlossenen Gruppen statt, insgesamt 11-mal für 6 Stunden pro Woche. In diesen 6 Stunden werden die Teilnehmer*innen von einem Mind-Body-Therapeuten begleitet und es gibt ärztliche Visiten. Es werden unterschiedliche Inhalte vermittelt, insbesondere zu Lebensstilveränderungen. Das betrifft v.a. Bewegung, Entspannung, Stressreduktion, Ernährung und naturheilkundliche Selbsthilfestrategien bei möglichen Symptomen wie u.a. Übelkeit. Und auch Aspekte zu Krankheitsbewältigung und Verhaltensänderungsstrategien. Die Patient*innen bekommen klare Beispiele und Aufgaben, in denen sie sich selbst reflektieren können.

Ziel ist, dass die Patient*innen ihre Bedürfnisse erkennen, darauf achten und ihre eigenen Lösungen finden.

Eine Besonderheit des Konzepts ist, dass die Teilnehmer*innen die Kursinhalte nicht nur in Vorträgen vermittelt bekommen, sondern sie selbst erfahren, erleben, spüren, z.B. in konkreten praktischen Übungen in der Bewegungstherapie oder in Reflexionsübungen zum eigenen Umgang mit Stress.

Das Programm ist natürlich kein Ersatz für die Behandlung durch Hausärzte oder Onkologen, sondern ein zusätzliches Angebot.

Wie wichtig ist der Austausch unter den Kursteilnehmer*innen?

Der Austausch ist sehr wichtig und auch therapeutisch vorgesehen, weil soziale Bindungen gerade bei Krebserkrankungen eine Rolle spielen. Es ist bekannt, dass onkologische Patient*innen, die keine soziale Unterstützung haben, ein höheres Risiko haben als diejenigen mit sozialem Rückhalt. Auch das wird im Kompaktproramm gepflegt. Ich habe Patient*innen, die vor fünf, sechs Jahren am Kurs teilgenommen haben und sich immer noch treffen.

Welche Rückmeldungen bekommen Sie?

Vor Kurzem hat mir eine Patientin mit Tränen in den Augen gesagt: Schade, dass ich das erst jetzt erleben durfte. Ich hätte so davon profitieren können, wenn ich das in der Zeit der Chemotherapie gemacht hätte.

Insgesamt bekommen wir sehr positive Rückmeldungen von den Patient*innen. Ich würde mir wünschen, dass alle Kassen die Kosten übernehmen und jede*r die Möglichkeit zur Teilnahme hätte.

Welche Kassen übernehmen die Kosten?

Von den gesetzlichen Krankenkassen erstatten bislang die AOK und die Bosch BKK die Kosten. Auch viele Privatkassen übernehmen die Kosten.

Eine Teilnahme ist auch im Rahmen von Studien möglich, wenn die Patient*innen die Einschlusskriterien erfüllen.

Wie kann man teilnehmen?

Eine Vorstellung in der Ambulanz genügt. Dann schauen wir uns an, ob ein*e Patient*in für das Kompaktprogramm geeignet ist.

Welche Patient*innen behandeln Sie sonst noch in der integrativmedizinischen Sprechstunde?

Im Grunde genommen alle mit chronischen Erkrankungen – u.a. aus der Kardiologie, der Gastroenterologie, der Nephrologie, Schmerzerkrankungen wie Fibromyalgiesyndrom und Migräne.

Wie viele Patient*innen behandeln Sie pro Jahr im Vergleich zu den Anfangsjahren der Abteilung?

Die Zahlen für das Kompaktprogramm sind relativ stabil: Wir bieten etwa 10 Kompaktprogramme pro Jahr mit jeweils 10 Patient*innen an, also 100 Patient*innen pro Jahr.

Im ambulanten Bereich kamen ganz am Anfang 2015 etwa 4 Patient*innen pro Quartal. Jetzt betreuen wir in der Ambulanz jährlich rund 650 Patient*innen.

Stationär sind es ca. 1200 Patient*innen pro Jahr.

Wie war das Ansehen für die Naturheilkunde bei Ihnen im Krankenhaus, als die Abteilung eröffnet wurde? Und wie ist es heute?

Die Mitteilung, dass die Naturheilkunde wieder aufgebaut wird, hat wohl nicht nur für Zuspruch gesorgt. Ich habe aber nie Widerstand gespürt oder vielleicht nicht spüren wollen. Ich habe von Anfang an Konsens gesucht und eigentlich immer gegenseitigen Respekt wahrgenommen. Heute wünschen sich viele Kolleg*innen eine größere Präsenz der Naturheilkunde, auch die Chefärzt*innen. Die Integration der Naturheilkunde war und ist immer noch ein Prozess, meiner Meinung nach ein sehr positiver. Und er nützt vor allem den Patient*innen.

Die Integration der Naturheilkunde ist ein Prozess. Und er nützt vor allem den Patient*innen.

Die integrative Medizin ist inzwischen hier also etabliert?

Sie ist in der Onkologie etabliert. In anderen Bereichen erweitern wir uns. Wir werden insgesamt wahrgenommen und wertgeschätzt.

2023 wurde hier das Robert Bosch Centrum für Integrative Medizin und Gesundheit gegründet. Sie und Prof. Holger Cramer leiten das Zentrum. Was sind die Ziele?

Das Centrum hat den großen Vorteil, dass klinische und wissenschaftliche Ebenen zusammenkommen – von der Forschung zum Patienten und von der Erfahrung zur Forschung. Holger Cramer ist der wissenschaftliche Leiter und ich bin ärztliche Leiterin. Wir arbeiten eng zusammen und haben viele gemeinsame Projekte.

Wie hängt die 2022 in Tübingen besetzte Professur damit zusammen?

Die Professur gehört zum Lehrstuhl in Tübingen. Sie wird in den ersten 5 Jahren von der Robert Bosch Stiftung finanziert und ist am Bosch Health Campus in Stuttgart angesiedelt.

Welche Forschungsprojekte laufen aktuell bei Ihnen?

Wir sind gerade gemeinsam mit der Universität Würzburg in der Rekrutierungsphase für die FREE-AI-Studie*. Das ist eine bizentrische, einarmige, prospektive Interventionsstudie inklusive einer qualitativen Begleitstudie mit Mammakarzinompatient*innen, die unter einer Aromatasehemmer-Therapie Gelenk- oder Muskelbeschwerden entwickeln. Dafür gibt es bislang keinen effektiven therapeutischen Ansatz. Viele Patient*innen beenden deshalb die Therapie, womit sich das Rezidivrisiko erhöht. Wir wollen nun prüfen, ob sich Fasten positiv auf die Beschwerden auswirkt. Dafür gibt es Hinweise aus der Rheumatologie. Sollten wir in der Pilotstudie einen Benefit des Fastens für die Patient*innen beobachten, werden wir eine konfirmatorische Studie anschließen.

Dann läuft ein Projekt zum NADA-Protokoll. Es gibt Evidenz, dass Akupunktur nach dem NADA-Protokoll Stress reduziert. Wir werden bei Patient*innen mit multiplem Myelom unter Chemotherapie, die einen Disstressspiegel über 5 angeben, überprüfen, ob das NADA-Protokoll während der Chemotherapie eine lindernde Wirkung hat. Diese randomisierte kontrollierte Studie führen wir gemeinsam mit Kolleg*innen der Universität Würzburg durch.

In einer dritten Studie möchten wir herausfinden, ob eine Unterzungen-Akupunktur bei Geschmacksstörungen durch Chemotherapeutika hilfreich sein kann. Bestimmte Chemotherapeutika verursachen Geschmacksstörungen, für die es derzeit keine Therapie gibt. Die Patient*innen leiden darunter sehr. Es handelt sich um eine dreiarmige, randomisierte, placebokontrollierte Studie. Wir untersuchen, inwieweit sich eine wiederholte Akupunkturbehandlung unter der Zunge im Vergleich zu einer Scheinakupunkturbehandlung oder der Standardtherapie positiv auf das Geschmacksempfinden bei diesen Patient*innen auswirkt. In die multizentrische Studie sollen insgesamt 75 Patient*innen eingeschlossen werden. In der Studie werden wir aber nicht direkt unter der Zunge Nadeln setzen und liegen lassen, sondern für wenige Sekunden 2 bestimmte Punkte unter der Zunge stimulieren.

Auch für unser Kompakt-Programm läuft eine Studie, für die wir die Rekrutierungsphase demnächst abschließen. Wir werden bei hämato-onkologischen Patient*innen evaluieren, ob sich durch die Teilnahme Fatigue und weitere Endpunkte wie Schlafstörungen und Lebensqualität verbessern.

Dann führen wir gemeinsam mit Prof. Holger Cramer und der Charité Berlin die YoFaPoCo-Studie** zu Yoga und Post-Covid-Fatigue durch. Es gibt Evidenz, dass Yoga bei onkologischen Patient*innen Fatigue bessert. Wir möchten nun herausfinden, ob es auch Verbesserungen bei Post-Covid-Fatigue bringt.

* FREE-AI: Explorative Studie zum therapeutischen Fasten zur Reduktion von Einschränkungen des körperlichen Befindens und der Lebensqualität unter Endokriner Therapie mit Aromatase-Inhibitoren

** YoFaPoCo: Yoga versus Gesundheitsedukation zur Therapie persistierender Fatigue bei Patienten mit Post-COVID-Syndrom

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Anke Niklas.

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