Welche Ziele verfolgt die Kunsttherapie bei chronischen Schmerzen?
Ein Hauptziel ist, die Patient*innen wieder in die Aktivität zu bringen. Chronische Schmerzen führen oft dazu, dass Betroffene immer inaktiver werden, weil Bewegung Schmerzen verursacht oder verstärkt. In der Kunsttherapie müssen sie aktiv Materialien holen, gestalten oder malen. Dadurch erkennen sie, dass sie aktiv sein können, ohne mehr Schmerzen zu haben – oft sogar mit weniger Schmerzen. Sie erleben sich wieder als aktiv und selbstbestimmt. Das stärkt das Selbstwertgefühl und gleichzeitig kommen die Patient*innen durch das Gruppensetting wieder in soziale Interaktion. Die Reduktion der Alltagsaktivitäten geht in den meisten Fällen mit sozialem Rückzug einher. In der Kunsttherapie können Patient*innen sich wieder in Reflexion mit anderen erleben und Erfahrungen teilen.
Ein weiteres Ziel ist, den Patient*innen neue Ausdrucksmöglichkeiten zu geben. Chronische Schmerzen dominieren oft das gesamte Leben der Betroffenen so sehr, dass sie sich über ihr Schmerzlevel identifizieren. Der Alltag und die Gefühlswelt werden auf das Schmerzerleben reduziert und sie reden fast nur noch über ihr Schmerzlevel. In der Kunsttherapie können sie sich auf einer nonverbalen Ebene ausdrücken und wieder eine Vielfalt von Gefühlen wahrnehmen, die über den Schmerz hinausgehen.
Wie wenden Sie die Kunsttherapie bei Schmerzpatient*innen an?
Es gibt keine Standardmethode für Schmerzpatient*innen, denn jede*r hat eine eigene Geschichte. Was sich aber bewährt hat, sind ressourcenorientierte Ansätze. Das heißt, ich helfe den Patient*innen herauszufinden, was ihnen Kraft gibt und welche Fähigkeiten sie haben. Die Kunsttherapie ist sehr vielfältig. Es gibt viele kreative Ausdrucksmöglichkeiten wie Zeichnen, Fotografieren oder Arbeiten mit Ton oder Holz. Viele sind so auf ihren Schmerz fokussiert, dass sie gar nicht mehr wahrnehmen, was in ihrem Leben gut funktioniert. In der ersten Stunde nehme ich ihnen oft zunächst die Angst vor der Kunst. Viele haben in Vorgeschichte, z.B. in der Schule schlechte Erfahrungen gemacht und sind unsicher, weil sie denken, sie müssten gut malen können. Dabei geht es in der Kunsttherapie nicht darum, schöne Bilder zu malen, sondern darum, sich auszudrücken und neue Erfahrungen zu machen.
"In der Kunsttherapie geht es nicht darum, schöne Bilder zu malen, sondern sich auszudrücken und neue Erfahrungen zu machen."
Welche Veränderungen in Bezug auf chronische Schmerzen und das allgemeine Wohlbefinden beobachten Sie bei den Patient*innen während und nach der Kunsttherapie?
Es gibt kurzfristige und langfristige Veränderungen. Kurzfristig erleben viele Patient*innen während der Kunsttherapie weniger oder gar keine Schmerzen, weil sie abgelenkt sind. Das ist nicht nur kunsttherapiespezifisch – dasselbe kann beim Stricken oder beim Filmschauen passieren. Was die Kunsttherapie zusätzlich bewirkt, ist, dass die Patient*innen unterbewusste psychische Prozesse durchlaufen. Diese Prozesse brauchen Zeit. Nach und nach bemerken sie, dass sich ihr Schmerzempfinden verbessert, weil sie z.B, gelernt haben, anders mit ihren Gefühlen und Konflikten umzugehen oder nichtkörperliche aufrechterhaltende Faktoren ihres Schmerzes erkannt und bearbeitet haben.
Wie lange dauert es, bis sich Veränderungen zeigen? Ist immer mit einer Schmerzlinderung zu rechnen?
Veränderungen brauchen Zeit, und es ist nicht garantiert, dass immer eine Schmerzlinderung eintritt. Das hängt stark davon ab, wie offen die Patient*innen sind, auch psychische oder soziale Faktoren hinter ihren Schmerzen zu reflektieren. Viele sehen den chronischen Schmerz rein körperlich, etwa „Ich habe mir vor Jahren ein Bein gebrochen und deshalb habe ich immer noch Schmerzen“. Wenn sie aber anfangen, auch psychische Faktoren wie Stress oder ungelöste Konflikte zu betrachten, steigt die Chance, dass die Kunsttherapie helfen kann.
Für wen ist die Kunsttherapie geeignet? Müssen die Patient*innen bestimmte Voraussetzungen mitbringen?
Die einzige Voraussetzung ist Offenheit. Wie bei der klassischen Psychotherapie muss man bereit sein, bei sich selbst hinzuschauen und sich auf den Prozess einzulassen. Je weniger Vorerfahrung jemand mit Kunst hat, desto besser kann sogar oft das Unterbewusste in den kreativen Prozess einfließen und eine persönliche Bildsprache entstehen.
Welche Rolle spielt die Kunsttherapie innerhalb eines multimodalen Behandlungskonzepts?
Ich arbeite in einer interdisziplinären Klinik, und da spielt die Kunsttherapie eine wichtige Rolle. Körperliche Therapien wie Schmerzmittel oder Physiotherapie stoßen oft an ihre Grenzen, da sie eher die Symptome behandeln. In der Kunsttherapie hingegen kommt man den Auslösern auf die Spur, z.B. kommen häufig Emotionen oder unbewusste Konflikte zum Vorschein, die den Schmerz aufrechterhalten. Diese Aspekte lassen sich im Gespräch oft schwer ausdrücken, zeigen sich aber im kreativen Prozess, was häufig zu einem „Aha-Moment“ führt. Durch das Bewusstwerden der auslösenden oder aufrechterhaltenden Faktoren werden sie bearbeitbar. Dadurch, dass die Beschwerden gebessert werden, kann sich auch die Lebensqualität verbessern.
Mareike Schültje
Mareike Schültje hat einen Masterabschluss in Kunsttherapie, ist kunsttherapeutische Traumaberaterin und Hypnotherapeutin. Sie arbeitet an einer psychosomatischen Schmerzklinik in Frankfurt a.M. sowie in eigener Praxis.
Seit 2023 promoviert sie an der Paracelsus medizinische Privatuniversität Nürnberg und forscht zum Thema Kunsttherapie bei chronischen Schmerzen. Schültje ist Vorstandsmitglied des Deutschen Fachverbandes für Kunst- und Gestaltungstherapie (DFKGT).
Instagram: @schueltjekunsttherapie
Wer übernimmt die Kosten für die Kunsttherapie?
Das hängt davon ab, in welchem Rahmen die Therapie stattfindet. Wenn die Kunsttherapie Teil eines stationären oder teilstationären Klinikaufenthaltes ist, werden die Kosten in der Regel vom Gesundheitssystem übernommen. Bei privater Kunsttherapie müssen die Patient*innen die Kosten in der Regel selbst tragen, da sie nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Private Krankenkassen übernehmen manchmal die Kosten, vorausgesetzt, der*die Kunsttherapeut*in verfügt über eine Heilerlaubnis (z.B. als Heilpraktiker). Es gibt auch spezielle Fonds, die Kunsttherapie finanzieren, beispielsweise für Opfer von sexuellem Missbrauch (Fonds Sexueller Missbrauch).
Gibt es Studien zur Wirksamkeit der Kunsttherapie bei chronischen Schmerzen?
Es gibt leider nur wenige Studien zur Kunsttherapie im Allgemeinen und noch weniger zu ihrer Anwendung bei chronischen Schmerzen. Ich selbst leite aktuell eine Studie mit 260 Proband*innen, um die Wirkung der Kunsttherapie bei chronischen Schmerzen zu erforschen. Erste Ergebnisse zeigen, dass Patient*innen, die Kunsttherapie erhalten, länger eine Schmerzreduktion erfahren als diejenigen, die keine erhalten und die Schmerzreduktion zusätzlich stärker ausfällt. Der Effekt hält oft sogar noch bis zu 3 Monate nach der Therapie an. Aber es ist schwierig, die komplexen Prozesse, die in der Kunsttherapie stattfinden, in Zahlen zu fassen. Deshalb trauen sich nur wenige an solche Studien heran.
Aktuell läuft meines Wissens eine Studie in Deutschland, die das Gruppensetting in der Kunsttherapie in einer Schmerzklinik untersucht. Eine groß angelegte kunsttherapeutische Studie zu chronischen Schmerzen ist mir bis dato unbekannt.
Ansonsten gibt es Einzelfallstudien, die eine Wirksamkeit der Kunsttherapie bei psychosomatischen Beschwerden aufzeigen, zu denen auch chronische Schmerzen gehören. Diese Studien zeigen zwar eine gewisse Wirksamkeit, sind aber aufgrund der Tatsache, dass es Einzelfallstudien sind, in ihrer Masse nicht aussagekräftig. Die Studienlage ist schlicht unzureichend.
Wenn Sie ein Fazit ziehen: Warum ist Kunsttherapie eine hilfreiche Option für Menschen mit chronischen Schmerzen?
Kunsttherapie setzt dort an, wo andere Verfahren an ihre Grenzen kommen. Sie bringt den Betroffenen viele unbewusste Prozesse vor Augen, die bearbeitet werden können. Gleichzeitig stärkt sie das Gefühl der Selbstwirksamkeit, aktiviert und fördert soziale Interaktionen, was für Schmerzpatient*innen besonders wichtig ist.
Das Gespräch führte Luise Struß.