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Was ist Feldenkrais eigentlich?
»Feldenkrais« hat weder etwas mit Feldern noch mit Kreisen zu tun, noch ist es ein »Hausfrauensport«. Der Name geht auf seinen Begründer Dr. Moshé Feldenkrais (1904–1984) zurück. Deswegen ist es auch nicht ganz einfach, sich unter der Methode etwas vorzustellen. Feldenkrais war Ingenieur, Physiker und Jiu-Jitsu- und Judo-Kämpfer. Er selbst litt unter Knieproblemen. Zur damaligen Zeit hieß es, dass eine Knieoperation nur zu 50 Prozent gelingen könne und die Gefahr bestehe, dass er danach gar nicht mehr gehen könne. Das spornte ihn an, mit seinem wissenschaftlichen Blick Bewegungen und Bewegungsabläufe zu beobachten und dadurch neue Möglichkeiten zu finden, sich wieder schmerzfrei zu bewegen – trotz seiner vorhandenen und nicht rückgängig zu machenden Kniebeschwerden. Daraus entwickelte er seine Methode.
Feldenkrais als Lernmethode
Feldenkrais betonte immer wieder, dass seine Methode eine Lernmethode ist: Es geht darum, neue Dinge zu lernen und daraus eigene, neue Möglichkeiten zu entwickeln, etwas noch leichter zu tun. Er erkannte auch sehr früh Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche: Wenn ein Körper beweglich wurde, stellten sich auch bewegliche, flexible Gedanken ein. Er stellte die Hypothese auf, dass es durch einen veränderten Gebrauch von verschiedenen Körperteilen und ein neues Zusammenspiel von Bewegungsabläufen auch neue Verknüpfungen im Gehirn gibt und sich daraus andere Denk- und Verhaltensmuster bilden. Diese neuen Verknüpfungen im Gehirn sind heute in der Wissenschaft als »Neuroplastizität « bekannt und nachgewiesen.
Gewohnheiten bewusst zu machen und dann Unterschiede in der Befindlichkeit durch eine veränderte Körperwahrnehmung spürbar zu machen, ist ein Hauptpunkt der Feldenkrais-Methode. Denn wenn Sie merken, was Sie tun, können Sie potenziell auch etwas anderes tun, das besser für Sie ist als die alte Gewohnheit!
Merke
Wenn wir uns Gewohnheiten bewusst machen, können wir auch etwas daran ändern und Alternativen entwickeln. Sind wir uns nicht bewusst, was wir tun, und haben den Autopiloten eingeschaltet, können wir auch nichts ändern.
Dies gilt auch für den psychischen Aspekt. Sich nicht abgrenzen zu können, nicht Nein sagen zu können, schränkt unsere Bewältigungsmöglichkeiten ein. Vielfach sehen wir dann nur noch die Lösung, noch mehr von demselben zu tun, also stillschweigend noch mehr Aufgaben zu übernehmen, noch länger im Büro zu bleiben und uns noch ungerechter behandelt zu fühlen.
Dass wir auch Nein sagen können, kommt uns nicht in den Sinn. Eine einfache Antwort an den Chef wie: »Lieber Chef, danke, dass du mir das zutraust, dass ich das alles schaffe. Aber könntest du vielleicht dieses Mal jemand anderen für diese Aufgabe fragen? Mein Schreibtisch quillt über …« erwägen wir nicht einmal.
Wenn uns bewusst wird, was wir im Autopilotenmodus tun, beginnen wir zu lernen, welche anderen Möglichkeiten wir haben und ausprobieren können. Das gibt uns Handlungsfreiheit und Luft zum Atmen. So lernen wir, auf körperlicher, aber auch auf psychischer Ebene neue Lösungsansätze zu sehen, die uns vorher nicht bewusst waren, weil wir nicht wussten, was wir taten.
Die Feldenkrais-Methode konkret
Sie sehen, bei der Feldenkreis-Methode geht es um ein ständiges Lernen und Erforschen der Möglichkeiten, damit unser Leben leichter wird. Da diese Wege sehr individuell sind und diese Prinzipien im Alltag überall einsetzbar sind, ist die Feldenkrais-Methode sehr vielfältig und individuell.
Wir können die Feldenkrais-Methode in jedem Alter einsetzen – etwa zur Optimierung der Bewegungsabläufe bei einem Spitzensportler für noch bessere Ergebnisse, für eine entspanntere Haltung bei einem Musiker und dadurch einen besseren Klang beim Spielen oder für eine optimale Körperwahrnehmung beim Schauspieler und damit ein tieferes Eintauchen in die Rollen. Aber auch im Alltag unterstützt uns die Methode dabei, zu lernen, leichter zu sitzen, zu stehen oder zu gehen oder einen anderen Umgang mit Beschwerden zu finden.
Es gibt zwei Settings in der Feldenkrais-Methode: Zum einen gibt es das Einzelsetting, »Funktionale Integration« (FI) genannt. Hier werden Sie meist passiv von einem Feldenkrais-Practitioner mit meist sehr langsamen und kleinen Bewegungen bewegt, um Ihrem Nervensystem neue Impulse und Möglichkeiten aufzuzeigen. Es geht darum, »Funktionen« zu integrieren, also neue Bewegungsabläufe und Zusammenspiele zwischen Körperteilen, damit ein neues Funktionieren möglich wird.
Zum anderen gibt es ein Gruppensetting, das »ATM« (Awareness Through Movement; Bewusstheit durch Bewegung) genannt wird. Hier werden Sie verbal durch einen Feldenkrais-Practitioner angeleitet, meist auf einer Matte auf dem Boden in Rücken-, Seit- oder Bauchlage, manchmal auch im Sitzen oder Stehen, gewisse Bewegungen zu erkunden und neue Möglichkeiten kennenzulernen. Dadurch ist das Bewusstwerden von Gewohnheiten und Handlungsfreiheiten durch langsame, achtsame Bewegungen möglich.
Darauf sollten Sie beim Feldenkrais unbedingt achten
Falls Sie an akuten oder neuen Symptomen leiden, lassen Sie diese vor dem Übungsbeginn medizinisch abklären. Auch wenn Sie in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung sind, wenden Sie sich bitte vorher an Ihren Arzt oder Therapeuten und fragen Sie nach, ob Sie damit starten dürfen oder etwas Bestimmtes berücksichtigen müssen. Meiner Erfahrung nach gibt es sehr wenige Kontraindikationen – aber klären Sie dies bitte individuell ab! Jede und jeder ist für sich selbst verantwortlich.
Kontraindikationen
Einige wenige Kontraindikationen sind:
- für die Übungen mit Augenbewegungen wie bei den Übungen zur Aktivierung des Nervus vagus: frisch operierte Augen, hoher Augeninnendruck.
- bei Übungen, die Kopf und Nacken betreffen: Hydrocephalus (umgangssprachlich Wasserkopf), Shunt (der den Gehirndruck reguliert).
- bei psychotischen Beschwerdebildern wie bipolaren Störungen oder schweren Depressionen mit psychotischen Anteilen oder Schizophrenie rate ich von allen Übungen ab. Es kann sein, dass, wenn jemand auf eine gleich bleibende Struktur im Innen und Außen angewiesen ist, um in seiner Mitte zu bleiben, die Übungen zu viel »Bewegung « ins Nervensystem bringen. Das könnte eine Destabilisierung verursachen.
Wichtig ist auch, dass Sie nie ohne ärztliche Absprache Medikamente reduzieren oder absetzen, auch wenn Sie sich besser fühlen!
Generell gilt: Wenn Sie sich wohl fühlen, sich alles für Sie gut anfühlt und Ihnen guttut, dann passt es! Überprüfen Sie deswegen bei den Übungen immer wieder: Fühlt es sich gut an, was ich gerade tue? Passt es für mich? Wenn ja, dann herzlichen Glückwunsch! Machen Sie genau so weiter!
Denken Sie daran: Sie brauchen niemandem etwas zu beweisen oder zu erzwingen. Die Übungen sind für Sie da und nicht Sie für die Übungen. Denn wenn Sie sich unwohl fühlen, etwas »erzwingen« oder aushalten wollen, dann wird Ihr Nervensystem Ihnen dies sofort durch Anspannung und Unwohlsein rückmelden. Dann richtet sich Ihr Fokus auf dieAnspannung anstatt auf die Wahrnehmung dessen, was gerade ist. Sie haben keine freien Kapazitäten, um Unterschiede zu spüren zwischen dem, was Sie gerade gemacht oder anders gemacht haben, als Sie es normalerweise tun. Es gibt auch keinen »richtigen« Weg, wie sich etwas anfühlt – dies ist sehr individuell.
Übung: In der Mitte ankommen
Als Erwachsene agieren wir viel mit Händen und Armen und mit der muskulären Kraft der Extremitäten. Die Verbindung zum Rumpf, zu unserer Mitte, wird dabei vernachlässigt. Diese Übung hilft Ihnen, die Verbindung zu Ihren Extremitäten herzustellen und von der Mitte dadurch flexibler, entspannter und aufrechter durch den Alltag zu gehen.
Ausgangsstellung: Legen Sie sich bitte auf den Rücken, die Beine sind nach Möglichkeit lang. Nehmen Sie wahr, wo Sie im Moment auf Ihrer Rückseite im Kontakt mit dem Boden sind. Dann stellen Sie sich eine Mittellinie vor, die von Ihrem Scheitelpunkt über das Kinn, die Wirbelsäule hinunter bis zwischen Ihre beiden Füße geht. Wie sieht die aus? Ist die gerade, gebeugt, kurvig? Können Sie diese Mittellinie überall wahrnehmen, oder gibt es Stellen, an denen die Linie ganz dünn, kaum wahrnehmbar wird oder sogar ganz unterbrochen ist? Dann stellen Sie sich bitte zusätzlich zur Mittellinie zwei
Diagonalen vor: Die eine geht von Ihrer rechten Schulter zur linken Hüfte, die andere von der linken Schulter zur rechten Hüfte. Wo kreuzen sich die beiden Diagonalen? Und auf welcher Höhe kreuzen sie
die Mittellinie? (Bild 1)
Ausführung
- Stellen Sie beide Beine auf, und zwar so, dass sie ohne Muskelkraft von selbst eigenständig stehen. Rollen Sie dann den Kopf nach rechts und links – soweit es leicht geht. Der Kiefer bleibt dabei locker, die Atmung fließt ruhig und entspannt weiter. Spüren Sie nach: Wie weit geht diese Bewegung leicht?
- Kippen Sie die Knie etwas nach rechts und wieder zurück zur Mitte. Dann dasselbe nach links und zurück. Beobachten Sie, was sich im Kontakt der Fußsohlen verändert und wie das Becken leicht nach rechts und links mit rollt. Spüren Sie die Gewichtsverlagerung beim Becken und auch eine Drehung in der Wirbelsäule?
- Rollen Sie als Nächstes den Kopf in dieselbe Richtung mit dem Kippen der Knie. Die Bewegung kann klein bleiben – es geht darum, dass Sie wahrnehmen, was auf Ihrer Rückseite passiert, und dass Sie Kopf und Knie gleichzeitig wieder zurück in die Mitte bringen. Wie weit in der Wirbelsäule ist diese Rollbewegung nun spürbar?
- Dann drehen Sie die Bewegung um: Wenn der Kopf nach links rollt, kippen die Knie nach rechts und umgekehrt. Wie geht das? Beobachten Sie die Unterschiede in der Wirbelsäulendrehung und der Auflagefläche Ihrer Rückseite auf dem Boden. Sind Sie eher gewohnt, Kopf und Knie miteinander in dieselbe Richtung zu bewegen oder in die Gegenrichtung? (Bild 2)
- Wiederholen Sie den letzten Schritt und nehmen Sie wahr, was sich verändert hat. Geht es nun leichter?
- Machen Sie eine kurze Pause mit entspannt gestreckten Beinen und kehren Sie mit der Aufmerksamkeit zur Mittellinie zurück. Wie hat sich diese verändert? Ist sie vielleicht an gewissen Stellen
klarer geworden oder hat sich die Form verändert? - Stellen Sie beide Beine wieder auf, drehen Sie nochmals den Kopf nach rechts und links. Wie hat sich die Bewegung im Vergleich zum Beginn verändert? Ist sie leichter geworden, mit einer anderen
Qualität? Oder geht es weiter als zu Beginn, ohne dass Sie sich anstrengen müssen? - Bringen Sie als Nächstes Ihren rechten Fuß vom Boden weg, sodass sich Ihr Knie in Richtung Kopf bewegt, und umfassen Sie mit der linken Hand Ihre rechte Kniescheibe. Dann bewegen Sie den rechten Fuß in Verbindung mit der Hand in Richtung Boden. Achten Sie darauf, dass Sie Arm und Schulter sowie Nacken und Kiefer dabei locker lassen und nur so weit gehen, wie es angenehm für Sie ist. Was verändert sich an der Aufl agefl äche auf der Rückseite? Wo können Sie Spannung loslassen, die für diese Bewegung nicht benötigt wird, damit die Schulter in Verbindung mit dem Knie diagonal mitgehen kann? Machen Sie die Bewegung ein paar Mal, stellen Sie dann den Fuß wieder ab und ruhen Sie sich aus. (Bild 3)
- Wiederholen Sie dasselbe mit dem linken Fuß und der rechten Hand am Knie. Was ist der Unterschied? Wo berührt bei dieser Bewegung die Rückseite deutlicher den Boden und intensiviert sich der Kontakt?
- Ruhen Sie sich nochmals aus und nehmen Sie wahr, wo Sie jetzt überall aufliegen. Wie hat sich die Mittellinie verändert?Wie die beiden Diagonalen? Wie spürbar sind diese? Und wo kreuzen sie sich auf der Mittellinie?
- Strecken Sie dann Beine und Arme diagonal von sich weg, wie wenn Sie ein großes X auf dem Boden bilden möchten. Dann stellen Sie sich vor, dass Sie jemand abwechselnd ganz leicht an der Ferse diagonal in die Länge zieht (wirklich ganz, ganz leicht und eine kleine Bewegung!) und am gegenüberliegenden Arm. Spüren Sie die Verbindung zwischen dem rechten Bein und dem linken Arm, wischen dem linken Bein und dem rechten Arm? Was passiert in Ihrer Mitte, dass die Bewegung noch leichter werden kann? Wo können Sie noch Spannung loslassen, damit diese Diagonale durchgängiger wird?
Endposition: Machen Sie nochmals eine Pause und nehmen Sie erneut wahr, wie präsent die Mittellinie und die beiden Diagonalen sind, wo Sie Bodenkontakthaben. Rollen Sie sich dann auf eine Seite, kommen Sie langsam ins Stehen. Wie ist Ihre Aufrichtung jetzt? Gehen Sie ein paar Schritte vorwärts, eventuell auch rückwärts, und beobachten Sie auch hier die Unterschiede durch die Stärkung der
Diagonalen und Ihrer Mitte. Wie schwingen die Arme mit beim Gehen? Wie geht das Becken mit? Wie dreht sich die Wirbelsäule beim Gehen?
Variante: Nach einer ersten Erkundung können Sie auch einzelne Bewegungen herausgreifen und diese dann in kürzerer Zeit als Erinnerung für Ihr Körpergedächtnis wiederholen und in den Alltag einbauen.
Wirkung: Diese Übung eignet sich neben Erdung, Verbindung zu den Extremitäten und dem Wiederfinden der Mitte ebenfalls, um in eine entspannte Aufrichtung zu kommen, den Kopf zu befreien und eine gelassene innere und äußere Haltung zu fördern. Bewährt hat sie sich auch bei einengenden Gedanken im Rahmen von Ängsten oder depressiven Symptomen und Verspannungen im Rücken-, Becken-, Schulter- und Nackenbereich sowie Verstopfung und einem blockierten Zwerchfell bzw. nicht freier Atmung.
Wichtige Hinweise: Vor allem beim »X« ist es wichtig, ganz kleine und sanfte Bewegungen zu machen, um wirklich den Effekt der Verbindungsherstellung über Schulter- bzw. Hüftgelenk zur Mitte herzustellen und diese Diagonalen richtig wahrzunehmen.
Audio-Anleitung: In der Mitte ankommen
Klicken Sie auf den schwarzen Balken, um die Audio-Übung zu starten.
Wenn Ihre Seele aus der Balance gerät, fühlen Sie sich emotional belastet und gestresst. Das kann zu depressiven Verstimmungen, aber auch Ängsten und Schlafschwierigkeiten führen. Feldenkrais ist eine sanfte Methode, die Körper und Psyche wider in Einklang bringt. Nadja Zöch-Schüpbach erklärt in ihrem Buch "Feldenkrais für die Seele" das Zusammenspiel von Körper und Psyche und stellt Feldenkrais-Übungen vor, die Sie ins Gleichgewicht bringen und dadurch auch für psychische Ausgeglichenheit sorgen.
Autorin
Nadja Zöch-Schüpbach studierte Psychologie und Spanische Literaturwissenschaft an der Universität Bern. Sie lebt und arbeitet in der Ostschweiz als Psychotherapeutin, Feldenkrais Practitioner, Ausbilderin und Supervisorin. Sie interessiert sich besonders für Möglichkeiten, Körper und Psyche einfach und effektiv zu unterstützen, und bietet seit Jahren Kurse für Therapeuten und Gesundheitsinteressierte an. Als Fachpsychologin für Psychotherapie FSP und Feldenkrais Practitioner mit ständiger Weiterbildung im Embodimentbereich ist es ihr ein großes Anliegen, ihr Wissen und ihre Praxiserfahrung weiterzugeben.