Osteopathie bei KopfschmerzenKopfschmerzen in der Classical Osteopathy

Das Hauptaugenmerk der Classical Osteopathy bei gutartigen Kopfschmerzen wie Migräne oder Spannungskopfschmerz liegt auf der Wiederherstellung der physiologischen Funktionen.

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Holzfigur führt osteopathische Behandlung bei Holzfigur aus
C. Schüßler/stock.adobe.com

Ziel der Classical Osteopathy bei Kopfschmerzen ist, das regulative System wieder zu seiner Selbstregulation zurück zu führen.

In Deutschland leiden ca. 54 Mio. Menschen unter vorübergehenden oder andauernden Kopfschmerzen. Bevölkerungsbezogene Umfragen zeigen, dass fast 40 % der Erwachsenen über mehrmals im Monat stattfindende Kopfschmerzen klagen. Diese Zahl wird mit 75 % in der Gruppe der 18- bis 29-Jährigen noch übertroffen [1]. Die Ursachen sind genauso unterschiedlich wie individuell. Grund genug, sich des Themas therapeutisch ausführlich anzunehmen. Da die Ansätze auch innerhalb der Osteopathie vielfältig sind und an dieser Stelle nicht erschöpfend dargestellt werden können, nähert sich der Artikel dem Thema mit Bezug auf das Body Adjustment der Classical Osteopathy (CO) und deren konstitutioneller Herangehensweise

Formen von Kopfschmerzen

Kopfschmerzen treten in den unterschiedlichsten Formen und Zusammenhängen auf. So können sie Frühsymptome von akuten systemischen Infektionen sein, als Prodromalsymptom von Hirntumoren oder als Folge vaskulärer intrazerebraler Blutungen auftreten. Häufig sind sie Begleitsymptome von Bluthochdruck, Erkrankungen im HNO-Bereich, Zahnproblemen bis hin zur Obstipation.

Aufgrund der vielen möglichen Hintergründe ist es von enormer Bedeutung, die Ätiologie der jeweils vorliegenden Problematik zu erkennen, um eventuelle „Red Flags“ für einen osteopathischen Behandlungsansatz identifizieren zu können. Glücklicherweise handelt es sich bei 90 % der in der Praxis vorstellig werdenden Patientinnen und Patienten mit Kopfschmerzen um Migräne, Spannungskopfschmerz, Cluster Headache oder andere Mischtypen gutartiger Kopfschmerzen. Auf keinen Fall sollte dies jedoch unsere Aufmerksamkeit trüben, denn die Möglichkeit schwerwiegender Hintergründe bleibt darüber hinaus immer bestehen.

In diesem Artikel beziehen wir uns jedoch ausschließlich auf den Behandlungsansatz bei gutartigen, funktionellen Mustern von Kopfschmerzen und stellen diesen im Kontext des Kernkonzepts der Classical Osteopathy dar.

Schmerzursachen

Da das Gehirn an sich schmerzunempfindlich ist, werden Schmerzen über andere Wege vermittelt. Eine große Rolle spielt daher die Stimulation schmerzsensibler Fasern der großen zerebralen Arterien und Venen. Darüber hinaus in Frage kommen selbstverständlich auch das Periost des Schädels, die Muskeln und Gewebe der Kopfhaut, die Schleimhaut der Neben- und Stirnhöhlen, das Kiefergelenk, die Zähne und das Zahnfleisch sowie die Dura und die Meningen. Auch Folgen von Traumata durch Dehnung oder Quetschung von Blutgefäßen stehen nicht selten als Auslöser im Mittelpunkt. Vor allem die Art. meningea media, die große Teile der Dura mater und der Schädelknochen versorgt, ist sehr empfindlich.

Während die Schmerzrezeptoren oberhalb des Tentoriums ihre Impulse über die somatosensiblen Fasern des N. trigeminus (HN V) zur anterioren Hälfte des Kopfes vermitteln, nutzen die Schmerzrezeptoren unterhalb des Tentoriums den N. glossopharyngeus (HN IX), den N. vagus (HN X) sowie die 2. zervikalen Nervenäste. Ihre Versorgung erstreckt sich auf das Gebiet über, hinter und unter dem Ohr, über das sich der Schmerz dann zu okzipitalen und/oder temporalen Kopfschmerzen ausbreitet [2].

Auf welche Art es zur Entstehung von Kopfschmerzen kommt, entscheidet sich durch die individuelle Zusammensetzung der Konstitution bzw. durch evtl. akut abgelaufene Prozesse, die diese zusätzlich belasten (externe Traumata, klimatische Faktoren etc.).

Konstitution

Wenn wir von Konstitution sprechen, dann verstehen wir darunter die Gesamtheit aller genetisch mitgebrachten sowie der im biopsychosozialen Kontext erworbenen Faktoren. Bei Letzteren handelt es sich sowohl um durchgemachte Verletzungen physischer und seelischer Art, um Erkrankungen als auch um die Substrate unserer Erfahrungen und Einstellungen.

Die Konstitution drückt immer aus, was ein Mensch zum aktuellen Zeitpunkt ist: die Verkörperung eines gesamten Lebens, die Wirklichkeit sämtlicher ablaufender Prozesse, vermittelt und vernetzt durch das zentrale, periphere und autonome Nervensystem und dessen Reflexaktivität sowie durch das vaskuläre System und das Hormonsystem. Ausdruck findet dieser Gesamtprozess in Physiologie und Anatomie sowie in deren gegenseitiger Abhängigkeit.

Betrachten wir den Menschen, der zu uns kommt, so sehen wir Ganzheit im Prozess. Wir sehen nicht die Krankheit im Sinne eines zu behandelnden Symptoms, sondern vielmehr den dahinterstehenden Gesamtprozess im Organismus, der sich in diesem Moment als das jeweilige Symptom ausdrückt. Man könnte sagen, das Ganze verkörpert das Symptom – auf diesen Artikel bezogen: den Kopfschmerz.

Gesundheit und Ungesundheit

Dr. John Martin Littlejohn, einer der Gründerväter der Osteopathie, prägte die Aussage „Disease starts sensory“, Krankheit beginnt auf der sensorischen Seite. Von dort aus gelangen Informationen in das Rückenmark des zentralen Nervensystems, werden weiterverarbeitet und beantwortet. Prozesse, die dabei nicht überwunden werden, bei denen die Regulation also nicht zum Abschluss kommt, bleiben als Modifikation der Physiologie zunächst lokal bestehen. Im Anschluss wechselwirken sie durch die neurologische, vaskuläre, mechanische und viszerale Vernetzung mit der gesamten Physiologie im Sinne einer Gesamtadaptation des Systems, in der CO auch als „pervertierte Physiologie“ bezeichnet. Der Begriff bezeichnet die Physiologie, die dem modifizierten Zustand des Systems entsprechend abläuft. Ein offensichtliches Beispiel hierfür ist etwa die Konstriktion der Lungengefäße durch eine Schonatmung nach Rippenbrüchen.

Littljohn prägte auch den Begriff der „vital forces“, der Gesamtheit aller Gewebeschwingungen, die in modernen Worten als gesunde physiologische Ressourcen bezeichnet werden können. Während unsere Konstitution mit fortlaufender Lebenszeit unter dem Eindruck der oben beschriebenen Adaptation mehr und mehr belastet wird, werden auch immer mehr Ressourcen verbraucht, die für andere Prozesse dann nicht mehr zur Verfügung stehen – die vitalen Kräfte sind gebunden. Folglich leidet das Gesamtmilieu, was den nächsten Schritt in der Krankheitsdisposition darstellt. Diesem Modell folgend ist – aus der Perspektive der Osteopathie – das Gegenteil von Gesundheit nicht Krankheit, sondern Ungesundheit (funktionell), aus welcher letztlich Krankheit als organisch-strukturelle Schädigung entsteht.

Classical Osteopathy und Body Adjustment

Die beschriebene Sichtweise wird in der CO direkt im Body Adjustment therapeutisch umgesetzt. Das Body Adjustment ist, in Bezug auf nicht akute Beschwerden, ein den gesamten Körper umfassender Behandlungsansatz. Wir adressieren in diesem Zusammenhang eine Konstitution, daher gibt es nicht „die“ wichtige Technik für Migräne etc. Wesentlich bei chronifizierten Beschwerden ist der Ansatz am Ganzen und der individuellen Vernetzung und Gesamtadaptation des Organismus. Somit kommen im Prinzip dieselben Techniken zur Anwendung wie im Akutfall, jedoch diesmal unter Einbeziehung aller Systeme.

Die Anwendung des Body Adjustment stützt sich auf Behandlungsprinzipien wie Rotation und Routine. Dabei arbeitet man sich über die langen Hebel der Arme und Beine von der Peripherie zum Zentrum vor. Lange Hebel haben den Vorteil, dass sie wiederholt angewandt werden können, während man die Geschwindigkeit dem aktuellen Gewebeausdruck anpasst, bis man eine Qualitätsveränderung wahrnimmt, die die erfolgte Umstimmung im Nervensystem signalisiert.

In Rückenlage arbeitet man sich vom Fuß über das Becken zur Lendenwirbelsäule vor sowie von den Armen über die Schultern zum Thorax. Anschließend folgt die Behandlung der Halswirbelsäule, bevor man die Routine in Bauch- und Seitenlage wiederholt. Unter Berücksichtigung sämtlicher anatomischer Verbindungen werden alle Gewebe präzise adressiert und wieder alleingelassen, wenn die erwähnte Umstimmung erfolgt ist.

Dieses Vorgehen wendet sich an die konstitutionelle Realität des Patienten, reduziert die Gesamtadaptation des Systems und führt zu einer besseren Integration des Systems, was sich in einer verbesserten Funktion ausdrückt.

Neurovaskuläre Anatomie

Bezogen auf die Behandlung von Kopfschmerz steht darüber hinaus die neurovaskuläre Anatomie des Kopfes im Mittelpunkt. Neben der arteriellen und venösen Versorgung muss der Therapeut im Zentrum seines Handelns halten [3]:

  • die stark schmerzempfindlichen Meningen, die vom N. trigeminus sowie von Ästen des N. maxillaris, N. mandibularis und N. vagus versorgt werden. Darüber hinaus muss auch die Verbindung zu den zervikalen Ästen von C1/2 über den N. hypoglossus berücksichtigt werden;
  • die Versorgung der Schädelfaszien mit ihren arteriellen und venösen Anastomosen;
  • in Bezug auf das Liquorsystem der Plexus choroideus und der Aquaeductus mesencephali, der den 3. mit dem 4. Ventrikel verbindet;
  • die Drainage des Liquor cerebro spinalis über die zervikalen Nervenscheiden von C5/6 & 7;
  • die lymphatische Drainage in die V. subclavia und somit der thorakale Inlet;
  • in Bezug auf die vasomotorische Kontrolle der Carotis und des Plexus choroideus das Ggl. cervicale superius/inferius;
  • die Segmente T1–5, von deren Seitenhornzellen die präganglionären, vasomotorischen Neurone abgegeben werden, die mit dem Truncus sympathicus bis zum Ggl. cervicale superius aufsteigen, wo sie synaptisch verschaltet werden. Die enge Beziehung zu den atypischen Wirbeln der Halswirbelsäule ist offensichtlich. Dysfunktionen dieser Wirbel, mit den sie begleitenden muskulären Spannungen, können sich direkt auf die langsamen C-Fasern als afferente Schmerzübermittler auswirken;
  • das Ggl. cervicale inferius ist eng in die faszialen Verbindungen des zervikothorakalen Übergangs (CTÜ) eingebunden und kann durch fasziale Spannungen und/oder Dysfunktionen der ersten Rippen leicht beeinflusst werden, was sich in der klinischen Beobachtung immer wieder bestätigt.

Akute Kopfschmerzen

An dieser Stelle soll betont werden, dass sich der konstitutionelle Ansatz explizit auf chronische Beschwerden bezieht, solche also, die klar auf einer konstitutionellen Grundlage aufbauen. Je akuter ein Kopfschmerz ist, desto kürzer und spezifischer fällt auch die Behandlung aus. Der Gedanke dabei ist, das System, das ohnehin schon mit der Regulation überfordert ist, nicht noch mehr zu strapazieren. Letztlich wollen wir eine Umstimmungsreaktion erzielen und keinen Zusammenbruch.

Die Erfahrungen aus der Praxis geben dieser Herangehensweise recht. Wählt man in einem akuten Zustand die Maximalstrategie des Body Adjustment, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass man den Zustand des Patienten verschlimmert, statt ihn zu verbessern. Eine konstitutionelle Herangehensweise erfolgt erst, wenn die akute Symptomatik verbessert wurde. Betrachten wir an dieser Stelle zwei Beispiele:

Venöse Kongestion

Ein akut auftretender Kopfschmerz, der sich vom Schädeldach zur Schädelbasis hin ausbreitet, wird als typischer Stauungskopfschmerz betrachtet. Im Rahmen des Akutmanagements befreit man die Stauung, indem die Gewebe um den Subokzipitalbereich und die zervikale Region entspannt und die Drainagewebe der Jugularvenen befreit werden. Man beginnt mit den Muskeln der Okzipitalregion, entspannt dann die Schädelfaszien vom Hinterhaupt zur Stirn hin, gefolgt von einer festen Inhibition über die gesamte Schädelfaszie hinweg.

Im nächsten Schritt erfolgt, mit gleichem Ablauf, die Anwendung von Vibrationen. Abschließend wird der Thorax mit Pumptechniken aktiviert, um über die entstehende Saugkraft die Entstauung in die Vena subclavia beidseits zu erhöhen. Der sog. „clavicle raise“, eine Technik zur Öffnung des thorakalen Inlets, befreit zusätzlich die mechanische Einschränkung der Drainage.

„Der Schraubstock“

Hierbei handelt es sich um Schmerzen, die beschrieben werden, als wäre der Kopf in einen Schraubstock gespannt. Tritt dieser Schmerz einseitig auf, wird er als eine Form der Migräne eingestuft. Wir bezeichnen das als typischen vasomotorischen Kopfschmerz, der sich üblicherweise auch im gesamten Körper als starke Anspannung ausdrückt. In diesem Fall arbeitet die CO inhibitorisch über die Vasomotoren von Brust- und Lendenwirbelsäule sowie über die des Sakrums. Dadurch wird der vasokonstriktorische Tonus gesenkt, woraufhin sich die abdominalen mesenterischen Gefäße entspannen und mehr Blut aufnehmen, was wiederum die Vasokonstriktion im Gehirn befreit und für einen ausgleichenden Effekt im gesamten Körper sorgt.

Für die Darstellung der Technik und des Vorgehens der CO sei auf die Literatur verwiesen [4][5]. Wichtig ist jedoch festzustellen, wie sehr die gesamte Konstitution über physiologische Modifikationen Träger jeder Symptomatik ist. Vasomotorische Veränderungen beispielsweise entstehen nicht ohne Grund. Sie sind zumeist multifaktorieller Ätiologie, die zuerst mit einer veränderten Reflexaktivität einhergeht, der sich dann weitere Adaptationen anhängen. Veränderungen jeglicher Art bilden sich immer auch im Körper ab, durch neuromuskuläre und fasziale Spannungen, Statik- und Druckveränderungen in den Körperhöhlen, die wiederum zu mechanischem Stress auf Organe und zu Veränderungen der Blutzirkulation führen. Die Herangehensweise der CO beinhaltet, das Gesamtmuster des Patienten aufzuarbeiten, sodass das System wieder zu seiner Selbstregulation zurückfinden kann.

Interessant zu sehen ist die Nähe zu anderen bekannten Verfahren der Regulationsmedizin. Hydrotherapien wie Kneippsche Güsse zielen u.a. darauf ab, das Blut zu verteilen, die Verbesserung vegetativer Reflexe anzustreben oder den Hypersympathikotonus zu senken [6]. Senfmehlfußbäder sollen die Blutzirkulation anregen und Blut vom oberen zum unteren Pol bringen. Wickel, Schröpfen, Baunscheidtieren, Cantharidenpflaster führen zu einer Umstimmung und somit zu einer Umverteilung von Blut im Gewebe, zur Zerstreuung von Stagnationen im Organsystem etc. [7]. Es gibt darunter einige Verfahren, die – richtig eingesetzt – von großer Hilfe für den Betroffenen sind und darüber hinaus selbst angewandt werden können, um die Regulation entscheidend zu verbessern.

  1. Die Techniker. Kopfschmerzreport 2020. Prävalenz, Pillen und Perspektiven. Im Internet: Zugriff am 18. Juli 2024 unter: https://www.tk.de/resource/blob/2088842/66767380cf7cce49b345b06baa704019/kopfschmerzreport-2020-data.pdf
  2. Elkiss MJ, Rentz LE. Neurology. In: Ward RC. ed. Foundations of Osteopathic Medicine. 2nd ed.. New York: Lippincott Williams & Wilkins; 2003: 437
  3. Waldman M. Classical Osteopathy, Articles, Lectures and Papers. 2013. Horsham, West Sussex (UK): Institute of Classical Osteopathy; 2013
  4. Wernham J, Waldman M. An Illustrated Manual of Osteopathic Technique. Maidstone, Kent (UK): Maidstone Osteopathic Clinic; 1981. Vol. I.
  5. Wernham J, Waldman M. An Illustrated Manual of Osteopathic Technique. Maidstone, Kent (UK): Maidstone Osteopathic Clinic; 1983. Vol. II.
  6. Augustin M, Schmiedel V. Praxisleitfaden Naturheilkunde. Stuttgart: Jungjohann; 1994: 173
  7. Augustin M, Schmiedel V. Praxisleitfaden Naturheilkunde. Stuttgart: Jungjohann; 1994: 50-51 

Kai Schabel ist Heilpraktiker, Osteopath sowie staatlich geprüfter Physiotherapeut und medizinischer Bademeister. Er absolvierte Weiterbildungen in den Bereichen Specific Adjusting Technique (Gez Lamb, Robert Lever) und Classical Osteopathy Body Adjustment (Institute of Classical Osteopathy). In seiner Praxis verfolgt er den Ansatz, dass Osteopathie, Naturheilkunde und Regulationstherapien sich fließend und stimmig miteinander verbinden und wechselseitig ergänzen.

Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.