Sie sind HNO-Arzt und haben an der ärztlichen Behandlungsleitlinie zum chronischen Tinnitus mitgearbeitet. Gibt es Zahlen, wie häufig ein chronischer Tinnitus auftritt?
In Deutschland leiden etwa 3 Millionen Menschen an einem chronischen Tinnitus. Epidemiologische Studien für Deutschland liegen bislang nicht vor. Studien aus anderen Länder berichten eine Inzidenz von bis zu 10 Prozent. Davon wiederum leiden etwa 10 Prozent der Betroffen in dem Ausmaß, dass sie ärztlich behandelt werden müssen.
Man hat den Eindruck, dass die Inzidenz in den letzten Jahren sehr zugenommen hat. Können Sie das bestätigen?
Ja. Zum Beispiel hat die Tinnitus-Liga in den letzten Jahren mehr Zulauf bekommen. Krankenkassendaten zu dieser Diagnose bestätigen diesen Trend. Man vermutet, dass diese Entwicklung durch die Corona-Pandemie verstärkt wurde. Der damit verbundene Stress etwa durch das Arbeiten im Homeoffice scheint einen Tinnitus besonders begünstigt zu haben.
Was sind die häufigsten Ursachen für einen Tinnitus?
Wir haben auf der einen Seite medizinische Gründe, warum das Ohr vulnerabler wird, dazu zählt die Innenohrschwerhörigkeit. Früher betraf das v.a. Arbeiter in Lärmbetrieben. Durch die Lärmprävention hat sich die Situation dort aber verbessert. Heute sehen wir mehr junge Menschen, die zu laut Musik hören. Wir rechnen deshalb in Zukunft mit steigenden Zahlen für Innenohrschwerhörigkeiten.
Ein Tinnitus tritt häufig dann auf, wenn Stress dazukommt. Schwerhörigkeit und Stress bilden eine ausgesprochen ungesunde Mischung.
Jeder Tinnitus beginnt erst einmal akut. Neben verschiedensten seltenen Ursachen kann ein akuter Tinnitus in Verbindung mit einem Hörsturz auftreten. Die genauen Ursachen dafür kennen wir allerdings genauso wenig wie für den Tinnitus.
Weiß man, wie ein Tinnitus entsteht?
Früher dachte man, Tinnitus hat seinen Ursprung im Innenohr. Heute wissen wir aus der Grundlagenforschung, dass er im Gehirn entsteht und dort auch verarbeitet wird.
Bei einer Schwerhörigkeit zum Beispiel fehlen die verloren gegangenen Frequenzen, die der Patient nicht mehr hören kann, im zentralen Ohr. Die Nervenzellen, die diese Frequenzen verarbeiten, haben dann einfach gesagt nichts mehr zu tun. Sie erzeugen aber trotzdem weiter (unkontrollierte) Geräusche.
Deshalb ist therapeutisch bei einer Schwerhörigkeit die Stimulation dieser Nervenzellen so wichtig. Es sollten unbedingt frühzeitig Hörgeräte angepasst werden.
Kann ein Tinnitus auch auf andere Erkrankungen hinweisen?
Bei einigen internistischen Erkrankungen, z.B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes, kann sich die Kreislaufsituation insgesamt verschlechtern. Neuropathien, periphere Polyneuropathien im Rahmen einer Diabeteserkrankung führen auch zu zentralen Durchblutungsstörungen, allerdings im Gehirn und nicht im Ohr. Bei Ohrgeräuschen, insbesondere wenn sie akut mit einem Hörsturz auftreten, sollte man Herz-Kreislauf-Erkrankungen in die Diagnostik einbeziehen.
In sehr seltenen Fällen können auch neurologische Erkrankungen zugrunde liegen.
Häufiger sind dagegen psychosomatische Erkrankungen: Ein Tinnitus kann durch eine psychische Störung ausgelöst werden, insbesondere durch eine Depression oder Angststörung. Und der Tinnitus kann vice versa auf eine Angststörung oder Depression hinweisen. Tritt der Tinnitus als krankmachende Ursache für den Patienten in Erscheinung, steckt meist etwas anderes dahinter.
Welche Rolle spielen Halswirbelsäule und Kiefergelenk?
In der Diagnostik und Therapie spielen Hals, Wirbelsäule und Kiefergelenk eine große Rolle. Oft bestehen durch Fehlhaltungen ausgelöste muskuläre Funktionsstörungen im Bereich der oberen Halswirbelsäule. Typische Beispiele sind aber auch Leistungs- oder Breitensportler, die im Fitnessstudio zu viel Hanteltraining machen. Dann kann es zu Verspannungen in der oberen Halswirbelsäule kommen, die wiederum einen Tinnitus auslösen können.
Das Kiefergelenk kann einen Tinnitus hervorrufen, etwa wenn jemand nachts mit den Zähnen knirscht und das Kiefergelenk überlastet. Das kann z.B. über den Trigeminusnerv zu Störungen bei den hörverarbeitenden Signalen führen und so einen Tinnitus entstehen lassen.
Wo setzt die Therapie an?
Tritt ein Tinnitus akut auf, setzt die Therapie an wie bei einem Hörsturz. Es wird vermutet, dass ein akuter Tinnitus mit einer Entzündung im Hörsystem, in den Ohren oder den Sinneszellen zusammenhängt. Deshalb besteht die Therapie in der Gabe von Cortison. Es kann als Injektion, Infusion, als Tablette oder direkt ins Mittelohr gegeben werden.
Beim chronischen Tinnitus geht es in erster Linie darum, wie belastend die Symptome für den Patienten sind. Und ob er unter Umständen dekompensiert, Schlafstörungen, Depressionen oder Angststörungen dazukommen. Im Einzelfall wissen wir nicht, welche Symptome zuerst und welche vielleicht als Folge aufgetreten sind. Dann kommen psychologische Diagnostik und Therapien in Betracht.
Was sind die Behandlungsansätze, wenn ein Tinnitus, ausgelöst durch Fehlhaltung oder -belastung, wahrscheinlich ist?
Diagnostisch muss zunächst die muskuläre Situation des Patienten analysiert werden. Therapeutisch stehen Physiotherapie, Osteopathie und natürlich Bewegung in jeder Form im Vordergrund. Dem Patienten müssen konkrete Tipps an die Hand gegeben werden, bis hin zur Haltungsverbesserung am Arbeitsplatz, einer besseren Sitzposition am Schreibtisch usw.
Dr. med. Eberhard Biesinger
Eberhard Biesinger ist HNO-Arzt in Lindenberg/Allgäu. Für sein Engagement für Tinnitus-Patient*innen wurde er von der Deutschen Gesellschaft für HNO-Heilkunde mit dem Hofmann-und-Heermann-Preis ausgezeichnet. Seit 2010 ist er in der Bestenliste des Magazins Focus gelistet. Für seine karitative Tätigkeit in Myanmar mit Ohrchirurgie wurde er 2019 mit der Medaille Für besondere Verdienste um den Freistaat Bayern in Europa und der Welt ausgezeichnet.
Welche Ziele stehen bei der Therapie eines chronischen Tinnitus im Vordergrund?
Das hängt sehr vom Individuum ab. Im Prinzip geht es bei der Tinnitusverarbeitung um Aufmerksamkeitsumlenkung und Entspannung. Das Wie hat der Patient mehr oder weniger selbst in der Hand. Er kann Entscheidungen treffen, wie sehr er unter der Krankheit leiden muss oder nicht. Das schafft er natürlich nicht allein, indem er sagt: Ich muss nicht leiden. Er braucht ein Vehikel oder einen Kristallisationspunkt, der ihm hilft, seine Aufmerksamkeit mit etwas Neuem völlig umzulenken.
Die Komplementärmedizin bietet gerade in diesem Bereich Möglichkeiten.
Der komplementärmedizinische Bereich hält sogar sehr viel bereit. Sehr gut eignen sich Verfahren, die mit körperlicher Wahrnehmung, Übung und Entspannung zu tun haben. Vor einiger Zeit haben wir z.B. Qigong-Übungen evaluiert. Im Ergebnis zeigte sich: Patient*innen, die Qigong praktizierten, hatten deutlich bessere Therapieerfolge. Aber nicht jeder ist dafür geeignet. Andere mögen lieber Yoga oder Feldenkrais. Typische Manager entscheiden sich vielleicht für Leistungs- oder Ausdauersport.
Mit Ausdauersport erreicht man eine hervorragende Stressreduktion. Aber: Ausdauersport in Maßen. Es geht nicht um Leistung, sondern um das Wohlergehen. E-Bikes sind dafür eine tolle Möglichkeit. Weil man sich dabei nicht stresst, wenn man den Berg rauf oder gegen den Wind fahren muss. Man kann die Ausdauerbewegung sehr gut dosieren. Und sie ist eine ausgezeichnete Quelle für Coping, Akzeptanz und eine bessere Lebensqualität.
Gibt es ein spezifisches Medikament gegen Tinnitus?
Nein, das gibt es nicht. Das Wichtigste ist, die Aussage, da kann man nichts machen, zu vermeiden, sondern nach Begleitfaktoren zu suchen. Bei sehr vielen Patient*innen finden sie sich im psychischen Bereich, aber es gibt auch organische. Hier spielen auch die Hausärzt*innen eine große Rolle. Werden Begleitfaktoren bei der Anamnese und Diagnostik ausgemacht, kann es wiederum Medikamente geben, die die Ursache behandeln und in der Folge auch den Tinnitus.
Ginkgo ist seit einiger Zeit sehr populär. Gibt es dazu Evidenz?
Wir haben im Rahmen der Leitlinienkonferenzen nach Studien gesucht, die die Wirksamkeit belegen können. Wir haben keine gefunden.
Es gibt aber die Placebowirkung, die durchaus sinnvoll sein kann: Sie zeigt, wie wir unsere Gefühlswelt und unseren Körper durch Scheinmedikamente steuern können − indem wir glauben, dass es hilft. Deshalb sind beispielsweise Nahrungsmittelergänzungsmittel, von denen der Patient glaubt, dass sie ihm helfen, nicht per se falsch. Ich würde deshalb auch den Ginkgo nicht gleich verteufeln. Man kann keine direkte Wirkung erwarten. Aber auch eine Placebowirkung ist eine positive Wirkung: Wir wissen aus Medikamentenstudien, dass in der Vergleichsgruppe, in der kein Verum gegeben wird, bei bis zu 70 Prozent eine Besserung auftritt.
Kann eine Sauerstofftherapie helfen?
In der Praxis hat die Sauerstofftherapie bei Tinnitus allein keinen Erfolg gezeigt. Sie ist aber einen Versuch wert, wenn der Tinnitus in Verbindung mit einem Hörsturz auftritt und die Cortisongabe keine Besserung gebracht hat.
Sind durch das Lokalanästhetikum Lidocain Erfolge zu erwarten?
Lidocain ist ein interessantes Medikament. Man hat es früher intravenös gegeben und gesehen, dass der Tinnitus prompt verschwand. Aber der Behandlungserfolg war nicht von Dauer, der Tinnitus kam zurück. Deshalb konnte sich Lidocain als Medikament nie etablieren.
Hat die Neuraltherapie Potenzial bei der Tinnitustherapie?
Die Neuraltherapie kann ausgesprochen hilfreich sein, wenn muskuläre Verspannungen oder Probleme mit dem Kiefergelenk bestehen. Verspannte Muskeln und Sehnen oder auch Triggerpunkte können damit beruhigt werden. Auch im Kiefergelenkbereich spielt das eine sehr große Rolle.
Was bringen akustische Ablenkungen wie Musik?
Musik und akustische Ablenkung sind ganz wichtig. Sie helfen, den Tinnitus für eine gewisse Zeit auszublenden und nicht mehr zu hören. Das hat zur Folge, dass die Neuronen, die den Tinnitus erzeugen, sozusagen abgelenkt sind. Jede Minute, in der man den Tinnitus nicht bewusst wahrnimmt, ist eigentlich Therapie. Aus diesem Mechanismus heraus wird der Tinnitus im Laufe der Zeit leiser. Und kann durchaus auch verschwinden.
Viele Patient*innen, die ihren Tinnitus gut kompensiert haben, sagen: Ja, ich habe Tinnitus, aber nur, wenn ich hinhöre, nehme ich ihn wahr.
Kann Akupunktur helfen?
Akupunktur kann gute Erfolge bringen, wenn der Tinnitus in Verbindung mit Muskelverspannungen auftritt. Das heißt, wenn wir mit Akupunktur Ursachen am Skelettsystem behandeln, wird sich das sehr wahrscheinlich günstig auf den Tinnitus auswirken.
Welchen Stellenwert haben Selbsthilfestrategien bei Tinnitus?
Einen sehr großen. Ein prinzipielles Problem jeder chronischen Krankheit besteht darin, dass man sich zurückzieht. Das passiert besonders dann, wenn Depressionen hinzukommen. Der soziale Rückzug macht die Situation sehr viel schlimmer, auch weil die Aufmerksamkeitsumlenkung, die beim Tinnitus eine grundlegende Rolle spielt, wegfällt. Dadurch kommt es zu einer Aggravation. Die Psychoedukation ist hier ein wichtiger Punkt.
Die Tinnitus-Liga erfüllt genau diesen Zweck: Patient*innen mit diesem Krankheitsbild können sich treffen und austauschen. Oft geht es nach ein paar Treffen nicht mehr primär um den Tinnitus, sondern um die Lebensqualität insgesamt, den gedanklichen Austausch und auch darum, fröhlich miteinander zu sein.
Welche Tipps geben Sie Ihren Tinnitus-Patient*innen an die Hand?
Erstens − Schlaf: Achten Sie auf Ihren Schlaf. Ist der Schlaf gestört, sind eine ärztliche Abklärung und Diagnostik der psychischen und der allgemeinen privaten und beruflichen Situation notwendig.
Zweitens − Skelettsystem: Lassen Sie Ihren Bewegungsapparat untersuchen, z.B. von einem guten Osteopathen. Dysfunktionen sollten behandelt oder auch eigeninitiativ in Bewegung umgesetzt werden.
Drittens − Entschleunigung: Halten Sie inne. Wird man krank, kann man sich die Frage stellen, ob der Körper einem damit etwas sagen will. Wir sind oft geneigt, immer weiterzumachen, Leistung zu bringen und Warnsignale zu überhören. Da bietet der Tinnitus auch die Chance, etwas zu ändern.
Viertens − Psyche: Beantworten Sie ehrlich für sich die Frage Wie geht es mir? Bin ich in einer Situation, die mir guttut oder müsste ich eine Inventur machen? Daran schließt sich eine weitere Frage an: Brauche ich vielleicht Hilfe in einem Bereich, der sich daraus entwickelt? Und bin ich bereit, Hilfe anzunehmen? Oder mache ich weiter wie bisher, auch wenn es mir nicht guttut?
Das Gespräch führte Anke Niklas.
Weiterführende Links
Ärztliche Leitlinie
S3-Leitlinie Chronischer Tinnitus: awmf.org
Selbsthilfe
Deutsche Tinnitus-Liga e.V.: tinnitus-liga.de
Osteopathie
Verband der Osteopathen in Deutschland e.V.: osteopathie.de