Langlebigkeit und VitalitätVitalität: Longevity als Chance für wirksame Beratung

Das Streben nach Vitalität ist so alt wie die Menschheit selbst. Doch was ist dran an dem durch die Medien befeuerten Longevity-Trend?

Senioren machen Dehnübungen im Park. Im Vordergrund stehen Wanderstöcke.
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Der Begriff „Vitalität“ hat tiefgreifende historische Wurzeln, die sich durch verschiedene Epochen ziehen. Abgeleitet vom lateinischen „vitalis“ bezieht sich Vitalität auf „zum Leben gehörig“. In der antiken Philosophie wurde Vitalität als essenziell für das Leben betrachtet. Im Mittelalter spielte die Vorstellung einer „Lebenskraft“ eine zentrale Rolle in der Medizin. Mit den Fortschritten in der Naturwissenschaft entdeckten Forscher, wie Energieprozesse in lebenden Organismen die Vitalität beeinflussen. Der Begriff der Vitalität durchzieht somit wie ein roter Faden die Geschichte der Medizin und des menschlichen Strebens nach einem gesunden, erfüllten Leben. Hahnemann [1] schrieb dieser Kraft die zentrale Rolle bei der Erhaltung der Gesundheit und der Heilung von Krankheiten zu. Ein ähnliches Gedankengut findet sich bei Christoph Wilhelm Hufeland [2]: Er betrachtete die „Lebenskraft“ als essenzielles Element für die Aufrechterhaltung des Lebens und legte großen Wert auf eine Lebensweise, die diesen Energiefluss unterstützt und belebt. Viele naturheilkundliche Ansätze beruhen auf diesem Gedanken. Heute wird Vitalität oft in einem ganzheitlichen Kontext betrachtet, der physisches, emotionales und soziales Wohlbefinden umfasst.

Zusammenfassung

Beratung zum Thema Gesundheit ist der Kern einer individuellen Medizin. Neben Empfehlungen zu aktuellen Beschwerden ist die Beratung zur Prävention von Erkrankungen unser tägliches Tun. Leider sind Gespräche zur Lebensstilveränderung zeitaufwendig und treffen oft auf den Widerstand menschlicher Gewohnheiten. Der aktuelle mediale und gesellschaftliche „Longevity-Trend“ zusammen mit bedeutsamen wissenschaftlichen Erkenntnissen im Bereich der Alterungsforschung öffnen für diese Tätigkeit nun neue Türen – und das weitgehend mit Ansätzen, die die meisten von uns längst in ihrer Praxis etabliert haben. Dieser Artikel umreißt das Thema Vitalität und stellt das aus der Praxisarbeit entstandene „SMKS-Modell“ vor. Dieses dient der Einordnung unserer Möglichkeiten für Untersuchungen und Interventionen in ein übersichtliches Beratungs- und Behandlungskonzept, das die Eigeninitiative und Selbstwirksamkeit unserer Patientinnen und Patienten anspricht.

Longevity – der neue Trend in der Gesundheitslandschaft

Aktuell hat sich der Begriff Longevity als Nachfolger des Anti-Aging-Trends etabliert. Longevity, im Deutschen häufig mit „Langlebigkeit“ übersetzt, steht für das Streben nach einem langen, gesunden Leben. „Gesundheitsspanne“ und „Medizin 3.0“ gehen in diesem Zusammenhang auf Peter Attia, den Autor des Buches „Outlive“ [3], zurück.

Es besteht eine deutliche Schnittmenge zum Konzept der Vitalität, wobei die Longevity-Welle sehr auf technologische und medizinische Innovationen setzt, um die Lebensspanne zu verlängern [4]. Millionenschwere Start-ups entwickeln Test- und Therapiemethoden. Der Wunsch, biologisches Altern besser zu verstehen, hat bereits jetzt bahnbrechende Ergebnisse zutage gefördert. Die dahinterstehenden Ideen lassen allerdings die Hybris menschlicher Wunschträume durchscheinen – die Rede ist davon, „Altern zu heilen“ oder gar den „Tod zu besiegen“. Viele Schwerreiche investieren nicht nur in diese Start-ups, sondern auch in kostspielige eigene Therapien [5].

Umfassende und alltägliche Beiträge zur Vitalität wie Ernährung, Bewegung, soziale Interaktion und innere Haltung, wie sie seit jeher Teil unserer Beratungen sind, treten angesichts solcher „High-Tech“-Versprechen in den Hintergrund.

Blue Zones

Geht es um die Frage, was uns gesund alt werden lässt, gibt es schon länger epidemiologische Forschungsergebnisse. In geografischen Bereichen mit besonders langlebigen Populationen, den nach Dan Buettner benannten „Blue Zones“ [6], konnten die Forscher in den letzten Jahrzehnten die Voraussetzungen für ein hohes Lebensalter durch natürliche Bedingungen beobachten. Die Ergebnisse sprechen für das Zusammenspiel wichtiger Elemente, zu denen Ernährung, Bewegung, Schlaf, aber auch soziale Gemeinschaften und empfundene Sinnhaftigkeit gehören.

Wie lassen sich diese Entwicklungen nutzen, was können wir in unserer Praxis und mit unserem Wissen Menschen bieten, die sich mit dem konkreten Anliegen, gesund altern zu wollen, an uns wenden?

Vier Dimensionen der Vitalität (SMKS-Modell)

Aus den Ergebnissen des Blue-Zones-Projekts, dem biopsychosozialen Modell und meinen Beratungserfahrungen entstand ein Modell, das Vitalität in vier fundamentale Bereiche gliedert: stoffwechselbedingte, mentale, körperliche und soziale Vitalität (SMKS-Modell; [ Abb. 1 ]). Diese Anteile haben einen fließenden Übergang und schaffen im Zusammenspiel ein Ganzes, das unser Wohlbefinden umfassend beeinflusst. Ich nutze dieses Modell regelmäßig, um mit meinem Gegenüber einen Überblick zu entwickeln und wirksame Ansatzpunkte vorzuschlagen.

Stoffwechselvitalität

Die Stoffwechselvitalität bezieht sich insbesondere auf unsere Energieversorgung – sowohl auf zellulärer Ebene (einschließlich der mitochondrialen Funktion) als auch auf übergeordnete Faktoren wie hormonelle Steuerung, Verdauung und Mikrobiom. Aspekte wie Ernährung (Kaloriendichte und -zufuhr, Phasen der Kalorienrestriktion, Versorgung mit Biofaktoren) sowie Hydration spielen hier eine zentrale Rolle. Der Übergang zur körperlichen Vitalität ist fließend.

Mentale Vitalität

Sie umfasst die Klarheit des Denkens, Kreativität sowie emotionale Stabilität und bezieht sich auf unseren Bildungsgrad sowie unsere Impulskontrolle – Faktoren, die z. B. mit der Fähigkeit korrelieren, zwischen Assoziation und Dissoziation hin- und herzuwechseln. Sinnhaftigkeit und Spiritualität sind hier zu verorten, aber auch Regulationskompetenzen wie die willentliche Beeinflussung vegetativer Prozesse, z. B. durch Atemtechniken. Übungen wie Meditation und Achtsamkeit können diese Form der Vitalität fördern.

Körperliche Vitalität

Hierunter fallen die körperliche Fitness, Flexibilität und Ausdauer – also der Zustand unserer Organsysteme und deren Zusammenspiel. Unser Bewegungsapparat aus Muskeln, Faszien, Sehnen, Gelenken und Knochen spielt genauso eine Rolle wie unser respiratorisches und kardiovaskuläres System und alle anderen Organe, einschließlich des zentralen Nervensystems (z. B. für Koordination und Balance). Regelmäßige Bewegung im Alltag, gezielte körperliche Übungen wie HIIT (High Intensity Intervall Training), Balance, Tanz und Spiel wirken sich positiv aus.

Soziale Vitalität

Diese wird durch die Qualität und Tiefe unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, unser Engagement und die Fähigkeit, mit anderen zu interagieren, gestärkt. Unsere sozial-emotionale Intelligenz findet sich hier. Neben unseren eigenen Fähigkeiten spielen auch kulturelle Faktoren und die gesellschaftliche Situation eine wichtige Rolle.

Vitalität als komplexe Interaktion

Natürlich wirken die einzelnen Elemente nicht isoliert, sondern bilden ein Netzwerk, das unsere gesamte Vitalität beeinflusst. Die Wechselwirkungen sind sehr komplex: Bewegung beispielsweise verbessert nicht nur die körperliche Vitalität, auch die stoffwechselbedingte Vitalität wird gefördert, was Schlaf und Stimmung bessert. Dies wiederum hat Effekte auf unser Sozialleben usw. Die vier Vitalitätsdimensionen dienen in diesem komplexen Geschehen entsprechend zur Orientierung, um Verbesserungsbereiche zu identifizieren und daraus eine ganzheitliche Vitalitätsstrategie zu entwickeln.

Vitalität als Ziel in der Beratung

Tatsächlich bietet uns das aktuelle gesellschaftliche Interesse an Longevity die Chance, unsere Patienten besser zu erreichen, indem wir unser Wissen und Können diesem Wunsch entsprechend kommunizieren. Die hohen Investitionen, die weltweit getätigt werden, und die starke Medienpräsenz zeigen das Interesse in vielen Gesellschaftsschichten und stärken darüber auch einen unserer wichtigsten Verbündeten: die Bereitschaft für Veränderung. Dieser Trend bietet eine Chance, die ich mir schon lange in meiner Praxis wünsche: Menschen früher zu erreichen und durch kleine Weichenstellungen viele Leiden gar nicht erst entstehen zu lassen.

Und dieser Effekt gilt nicht nur für den Zeitpunkt der Konsultation, sondern auch in deren Ausrichtung. Wird in der klassischen Beratung die Lebensstiländerung vor allem zur Vermeidung negativer Folgen auf unsere Gesundheit kommuniziert, kann gerade bei früher Beratung eine positive Nutzenargumentation viel besser greifen. Die eine oder andere Empfehlung wird so vielleicht weniger als Verzicht liebgewonnener Gewohnheiten verstanden, sondern vielmehr als eine Investition für ein erstrebenswertes Ziel.

Wie umfangreich eine solche Beratung und die dazugehörigen Untersuchungen ausfallen, richtet sich nach dem Wunsch meines Gegenübers. Ziel ist es, eine möglichst individuelle Strategie zu entwickeln. Eine umfassende Anamnese erfasst persönliche und familiäre Besonderheiten bzw. Risiken, vor allem aber die Ziele. Je konkreter, desto besser. Günstig sind messbare Parameter, spürbare Veränderungen, ob bei den Trainingswerten von Sportlern oder bei der Gehstrecke von Hochbetagten.

Die Ressourcenseite spielt eine wichtige Rolle: Alle Bereiche, in denen bereits günstige Verhaltensweisen und Kompetenz vorliegen, werden direkt betont und im Sinne eines „Stärken stärken“-Ansatzes hervorgehoben.

Technische und Laboruntersuchungen helfen, Maßnahmen zu gewichten. Ist beispielsweise ein Klient aufgrund einer ungünstigen Darmflora und/oder eines Biofaktorendefizits müde, fällt es ihm besonders schwer, sich körperlich mehr zu bewegen oder sich nach der Arbeit noch mit Freunden zu treffen. Hier hilft eine gezielte Diagnostik, um durch entsprechend gezielte Maßnahmen eine Verbesserung zu erzielen, die dann wiederum den Weg ebnet, körperlich aktiver zu werden und/oder wieder mehr am Sozialleben teilzuhaben. Anhand des SMKS-Modells kann man die Zusammenhänge sowie den Hintergrund von Untersuchungen und die entsprechenden Ansätze erläutern. Ich erstelle dazu für jede Konsultation ein Übersichtsblatt, das Ziele, individuelle Maßnahmen und den oder die nächsten Kontrolltermine zusammenfasst. Auch Tipps, Buchempfehlungen, Links etc. sind vermerkt. Für umfangreichere Themen, z. B. Empfehlungen zu Ernährung oder speziellen Supplementen, gebe ich ein separates Infoblatt mit oder sende es als PDF zu. Dieses Vorgehen hilft, die hohe Informationsdichte solcher Gespräche durch Stichworte rekapitulierbar zu machen, und ist ein guter Einstieg für die nächste Konsultation. In Summe geht es mir darum, den Klienten eine möglichst aktive Rolle einnehmen zu lassen und zum Nachfragen und Mitdenken anzuregen.

Welche Untersuchungen eignen sich?

Nahezu alle individuellen Messergebnisse können einen Mehrwert bei der Beratung darstellen; dabei sollte die Auswahl natürlich individuell und sorgfältig dem Anamneseergebnis und den Zielen entsprechend erfolgen.

Besonders wertvoll sind Verlaufsmessungen, bei denen der erreichte Unterschied durch Lebensstilveränderungen dokumentiert wird. Dazu eignen sich Untersuchungen wie Körpergewicht und -zusammensetzung, Krafterfassung, Messungen der Herzratenvariabilität, aber auch Laborwerte wie die Leberenzyme oder der HbA1c.

Auch neue Möglichkeiten können einen Mehrwert bieten: „Wearables“, also Messsysteme wie Fitnessuhren, erfassen rund um die Uhr verschiedenste Parameter. So kann der Patient auch seinen Blutdruck oder seinen Glukosespiegel live beobachten. Die auf epigenetischen Untersuchungen basierende „Horvath Clock“ (epigenetische Uhr) kann valide Aussagen über unser biologisches Alter liefern. Mittlerweile ist sogar unsere Alterungsgeschwindigkeit messbar.

Diese Methoden finden derzeit eine rasch zunehmende Verbreitung, und wir werden von Ratsuchenden darauf angesprochen. Auch dafür ist es gut, die Ergebnisse in ein Gesamtkonzept einsortieren zu können. Ich selbst betrachte diese Entwicklungen als Lernfeld und bleibe neugierig.

Hormesis als Beitrag zur Vitalität

Hormesis beschreibt die adaptiven Reaktionen von Organismen auf geringe Dosen von Stressoren, die in höheren Dosen schädlich wären. Der Gedanke ist, dass eine moderate Exposition gegenüber schädlichen Faktoren den Körper stärkt, indem sie dessen Abwehrmechanismen aktiviert.

In der Praxis zeigt sich die Wirkung von Hormesis beispielsweise in körperlicher Fitness: Regelmäßige Bewegung setzt den Körper gewissen Belastungen aus, die langfristig zu verbesserter Ausdauer und Kraft führen. Auch in der Ernährung zeigt Hormesis Effekte: Fasten beispielsweise, aber auch der Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln, deren sekundäre Inhaltsstoffe die Pflanze auch vor Infekten und Fressfeinden schützen soll, die also potenzielle Toxine sein können. Genau diese können die Stoffwechselprozesse des Körpers positiv beeinflussen und z. B. antikanzerogen wirken.

Ähnlich dürften sich physikalische Reize wie Hitze oder Kälte auswirken: Sauna oder Eisbad fordern unsere Regulationsmechanismen, die in unserem komfortablen Alltag kaum trainiert werden. Darüber hinaus trainiert die damit verbundene Selbstüberwindung auch unsere mentale Stärke. Im Buch „Die Komfort-Krise“ beschreibt Michael Easter seine Erfahrungen dazu auf unterhaltsame Weise [7].

Schlussfolgerung

Das Streben nach Vitalität ist so alt wie die Menschheit selbst und bleibt auch in unserer modernen Welt von zentraler Bedeutung. Ein ganzheitliches Modell, das biologische, psychologische und soziale Dimensionen integriert, bietet einen zukunftsweisenden Ansatz zur Förderung eines erfüllten Lebens. Für Menschen, die uns mit dem Ziel aufsuchen, vital ein hohes Alter zu erreichen, hält unser Wissen wertvolle Möglichkeiten bereit – und auch wir können für unsere Arbeit daraus lernen. Vielleicht ändert sich durch den aktuellen Trend auch für den ein oder anderen die hintergründige Frage: „Was möchte jeder werden, aber niemand sein? Alt!“, da wir gerade durch integrative Ansätze das Altern vielleicht nicht heilen, aber vital gestalten und so besser wertschätzen können.

Im Bereich körperliche und Stoffwechselvitalität kommen körperliche Tests, Gerätemessungen sowie Laboruntersuchungen zum Einsatz ([ Tab. 1 ]).

Dr. Franz Sperlich

Arzt für Allgemeinmedizin mit den Zusatzbezeichnungen Akupunktur, Homöopathie und Naturheilverfahren. Er hat in den USA neurophysiologisch zum Thema Aufmerksamkeit geforscht und an der Medizinischen Hochschule Hannover zu diesem Thema promoviert. Des Weiteren hat er einen Master in Komplementärer Medizin, Kulturwissenschaft und Heilkunde absolviert. Auf dieser Basis entwickelte er das Narrative-Mentoring-Konzept als Haltung zur (Selbst-)Reflexion. Er praktiziert heute mit einem integrierten Ansatz in Lilienthal bei Bremen. Darüber hinaus ist er Autor, Seminarleiter sowie als Redner zu Thema Vitalität und Selbstführung für Ärzte und Führungskräfte tätig.

Interessenkonflikt: Der Autor ist neben seiner Praxistätigkeit als Vortragsredner aktiv und berät Veranstalter und Firmen zum Thema Vitalität. Unter anderem ist er ärztlicher Leiter des VitalityLabProjects.

  1. Hahnemann S. Organon der Heilkunst. Leipzig: Arnoldische Buchhandlung; 1810
  2. Hufeland CW. Makrobiotik oder die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern. Jena: Akademische Verlagsbuchhandlung; 1796
  3. Attia P, Gifford B. Outlive: The Science and Art of Longevity. New York: Harmony/Rodale; 2023
  4. Sinclair DA. Lifespan: Why we age – and why we don’t have to. New York: Atria Books; 2019
  5. Schulz T. Wie wir locker 100 werden. Gesund bis ins hohe Alter. Spiegel 2024; 39: 8-13
  6. Buettner D. The Blue Zones: 9 Lessons for living longer from the People who’ve lived the longest. Washington, D. C.: National Geographic Society; 2008
  7. Easter Michael. Die Komfort-Krise: Akzeptiere das Unbehagen, um dein wildes, glückliches und gesundes Selbst zu finden. ABP Publishing Ltd; 2024