
Beeinflusst das Mikrobiom Hunger und Sättigung? Und was können Probiotika leisten? Antworten auf diese Fragen gab die Expertin Dr. Marie-Luise Simon auf einer Pressekonferenz der 19. Diabetes Herbsttagung.
Das Mikrobiom rückt zunehmend als regulatorischer Faktor im Kindesalter in den Fokus: für Stoffwechsel, Immunsystem, aber auch im Hinblick auf Appetit- und Essverhalten. Hier liegen große Hoffnungen angesichts der zunehmenden Inzidenz von Übergewicht, Adipositas und Diabetes Typ 2 bei Kindern und Jugendlichen.
Für klare Empfehlungen sei es jedoch noch zu früh und es bedürfe noch einiges an Forschungsarbeit, sagt die Expertin Dr. Marie-Luise Simon von der Uni Bonn. Was Kinder und Eltern schon heute tun können.
Probiotika und Mikrobiom im Kindesalter
Das Darmmikrobiom von Kindern ist in den ersten Lebensjahren in besonderem Maße formbar: Seine Zusammensetzung wird durch Geburtsmodus, Stillen, Einführung fester Nahrung sowie Antibiotikagaben beeinflusst. Ein etabliertes Mikrobiom kann als "gesund" betrachtet werden, wenn es in Diversität, Funktion und Stoffwechselaktivität günstig ausgeprägt ist.
Probiotika sind lebende Mikroorganismen. Es wird diskutiert, ob sie bei ausreichender Aufnahme gesundheitliche Vorteile bieten können. Bislang existieren für das Kindesalter folgende Hinweise:
- Probiotika können bei mangelernährten Kindern das Wachstum fördern. In Industrieländern wurden jedoch bisher keine klaren Effekte nachgewiesen. Das zeigt eine Analyse von Studien zum Wachstum in Entwicklungsländern.
- Bei übergewichtigen und adipösen Kindern könnten Probiotika die Lipid- und Entzündungsmarker, jedoch nicht zwingend eine signifikante Gewichtsabnahme. Dazu fand eine Metaanalyse Hinweise.
- Kinder im Alter von 0–3 Jahren, die Probiotika mit bestimmten Stämmen erhielten (z.B. Bifidobacterium longum subsp. infantis R0033, Bifidobacterium bifidum R0071, Lactobacillus helveticus R0052), hatten ein reduziertes Risiko für Übergewicht bzw. Adipositas im Vorschulalter (Odds Ratio für Übergewicht ≈ 0,88, für Adipositas ≈ 0,82) im Vergleich zu Kindern ohne Probiotikagabe. Das konnte eine prospektive Kohortenstudie zeigen.
Die aufgeführten Daten betreffen primär die Entwicklung von Gewicht und Fettmasse bei den Kindern. Ob Probiotika einen direkten Einfluss auf Appetit-Hormone oder das Essverhalten bei gesunden Kindern haben, ist noch kaum belegt.
Fazit
Probiotika können im Kindesalter potenziell modulieren – insbesondere beim Risiko für Gewichtszunahme. Sie sind allerdings kein Konzept, das allein die Appetitregulation vollständig steuern oder Erkrankungen wie einen Typ-1-Diabetes verhindern würde.
Was empfiehlt die Expertin?
- Eine ballaststoffreiche Ernährung mit Gemüse, Vollkorn, Hülsenfrüchten fördert ein günstiges Mikrobiom.
- Indirekt fördern Ballaststoffe eine bessere Appetit- und Gewichtskontrolle. Studien zeigen: Ballaststoffe und deren Fermentation durch das Mikrobiom verbessern Sättigung und modulieren Hormone.
- Der Einsatz von Probiotika bei Kindern sollte immer in Rücksprache mit Kinder- oder Ernährungsmedizin erfolgen, insbesondere wenn es um gezielte Appetitmodulation geht.
- Bei gesunden Kindern besteht keine Evidenz dafür, dass Probiotika allein Appetitprobleme lösen.
- Aufmerksamkeit auf frühkindliche Einflüsse: Stillen, schonende Einführung fester Nahrung, Vermeidung unnötiger Antibiotika bei Kindern können das Mikrobiom günstig beeinflussen.
- Eltern sollten nicht allein auf Mikrobiom-Produkte setzen und dabei andere bewährte Maßnahmen (regelmäßige Mahlzeiten, altersgerechte Portionen, Bewegung, gutes Schlaf- und Essrhythmus-Verhalten) vernachlässigen.
- Haben Kinder über einen langen Zeitraum einen gestörten Appetit (z.B. wenig Hunger, übermäßiger Hunger, Unruhe beim Essen), sollte eine ärztliche Abklärung erfolgen – nicht allein auf Mikrobiom-Interventionen vertrauen.
Mikrobiom, Hunger und Sättigung
Mehrere Forschungsarbeiten der letzten Jahre fanden Hinweise darauf, dass Veränderungen im Mikrobiom mit Hunger und Sättigung verknüpft sind. So zeigen Studien, dass mikrobielle Metaboliten (z.B. kurzkettige Fettsäuren, Aminosäure-Derivate, GABA, Tryptophan-Metaboliten) auf enteroendokrine Zellen oder das Zentralnervensystem wirken. Demnach können sie Appetit-regulierende Hormone wie GLP-1, PYY, Ghrelin, Leptin beeinflussen:
- Eine junge Studie berichtet, dass das Mikrobiom mit einer Appetitzügelung in bestimmten Settings assoziiert war (gut microbiota associated with appetite suppression in HTH). Demnach könnten Veränderungen im Mikrobiom mit Hunger- und Sättigungssignalen verknüpft sein.
- Übersichtsarbeiten zeigen bei übergewichtigen Kindern eine niedrigere Diversität des Darmmikrobioms und spezifische Veränderungen: z.B. das Verhältnis Firmicutes zu Bacteroidetes, reduzierte Akkermansia muciniphila-Abundanz).
Darüber hinaus wird der Einfluss der Ernährung – etwa Ballaststoffe, Prä-/Probiotika, Qualität der Nahrung – auf Mikrobiom und Appetitregulation untersucht:
- Studien zeigen bei Kindern mit Übergewicht, dass eine Präbiotikagabe (z.B. Inulin) über 16 Wochen die subjektiven Appetitbewertungen verbesserte und Ghrelin- sowie Adiponectinspiegel beeinflusste.
Fazit
- Adipositas bei Kindern und Jugendlichen bleibt ein ernstes gesundheitliches Problem mit langfristigen Folgen (z.B. Typ-2-Diabetes, Fettstoffwechselstörungen). Das Mikrobiom bietet neben gesunder Ernährung und Bewegung einen zusätzlichen Ansatzpunkt.
- Frühkindliche Programme zur "gesunden Ernährung" gewinnen durch diesen biologischen Ansatz an Bedeutung: Wenn das Mikrobiom früh beeinflusst werden kann, könnten langfristig das Essverhalten und Risikoprofil moduliert werden.
- Aus diabetologischer Sicht ist die Appetit- sowie Ernährungsregulation in der Prävention von Typ-2-Diabetes und metabolischen Folgen bei Kindern von großer Bedeutung.
Zentrale Fragen noch offen
Trotz der vielversprechenden Ansätze bleiben zentrale offene Fragen:
- kausale Zusammenhänge: Viele Studien sind beobachtend oder in Tiermodellen. Es fehlen lange randomisierte Studien bei Kindern, dass bestimmte Mikrobiomprofile direkt das Appetitverhalten beeinflussen.
- individuelle Variabilität: Jedes Kind bringt eine eigene Mikrobiom- und Genetik-Konstitution mit. Es ist bislang unklar, welche Stämme bei welchem Kind sinnvoll sind bzw. welcher "Mikrobiom-(Appetit-)Typ" existiert.
- spezifische Stämme und Dosierungen: Welche Probiotika-Stämme sind bei Kindern am wirksamsten? Welche Dosierung? Wie lange? In welchen Altersphasen? Diese Fragen bleiben offen.
- langfristige Wirkung und Sicherheit: Besonders bei gesunden Kindern sind Langzeitdaten zu Probiotika oder Präbiotika zur Appetitregulation noch spärlich – und es ist Vorsicht geboten.
- Abgrenzung zu Erkrankungen: Zwar könnte eine gesundere Darmflora helfen, Übergewicht oder Appetitdysregulation zu verringern. Aber sie ist keine Garantie gegen die Entstehung von Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes. Hier müssten Eltern vorsichtig sein mit hochtrabenden Versprechen.
Quelle: Pressekonferenz 19. Diabetes-Herbsttagung der Deutschen Diabetes Gesellschaft/28.10.2025/Ni


