
Jeder kann lernen, seinen Tinnitus zu "überhören".
Tinnitus: Das hört sich erst einmal schlimm an. Ist es auch, wenn man sich alleingelassen fühlt und nicht weiß, wie man damit umgehen soll. Weltweit sind etwa 740 Millionen Menschen von Tinnitus betroffen, berichtet eine 2022 im Journal of the American Medical Association veröffentlichte Metastudie 1. In Deutschland ist es etwa jeder Zehnte und rund 1,5 Millionen Menschen sind von ihrem Tinnitus so beeinträchtigt, dass sie therapeutische Hilfe brauchen.
Allerdings stellt der Tinnitus nicht für alle Betroffenen ein gravierendes Problem dar. Die nachfolgenden Fakten können nach dem ersten Auftreten der Ohrgeräusche helfen, ängstigende Fehlinformationen oder Mythen über Tinnitus über Bord zu werfen und mehr Sicherheit zu erlangen.
- Ohrgeräusche ohne äußere Schallquelle können kommen und gehen. Das muss dich nicht sofort beunruhigen. Jeder Mensch nimmt hier und da mal Ohrgeräusche wahr, ohne dass es dafür einen akustischen Auslöser gibt. Bei ca. 80 Prozent der Betroffenen verschwinden die Ohrgeräusche wieder.
- Tinnitus ist nicht gefährlich und schon gar nicht lebensbedrohlich. Ich spreche in meiner Praxis daher grundsätzlich von einem »frischen Tinnitus« (Ohrgeräuschen) und nicht von einem "akuten Tinnitus". Das Wort "akut" steht für die meisten Menschen in einer eher ängstigenden Assoziationskette z. B. mit einer akuten Blinddarmentzündung oder einer Notfallsituation. Daher finde ich die Bezeichnung "akut" hier nicht geeignet.
- Welche Ursachen gibt es für Tinnitus? Diese können sehr vielfältig sein. Dauerstress, emotionale Belastungen, ein Hörsturz und Höreinbußen rangieren ganz weit vorne. Oft kann dem Tinnitus keine eindeutige Ursache zugeordnet werden, daher erhältst du lediglich Vermutungs- und Verdachtsdiagnosen. Der ursprüngliche Auslöser deines Tinnitus kann auch schon längst wieder verschwunden sein.
- Deinen Tinnitus (auch "subjektive Ohrgeräusche" genannt) hörst nur du. Das bedeutet jedoch nicht, dass du psychisch krank bist. Anders als bei psychischen Störungen, bei denen Stimmen oder Musik gehört werden, sind die Tinnitus-Töne immer "sinn-frei".
- Objektive Ohrgeräusche nennt man Body-Sounds. Sie liegen nur bei einem Prozent der Betroffenen vor. Hättest du einen objektiven Tinnitus, wüsstest du das bereits, denn diese Geräusche kann deine HNO-Ärztin oder dein HNO-Arzt mit einem Stethoskop hören. Hier liegt stets eine körperliche Erkrankung in Ohrnähe vor.
- Völlig unabhängig von der möglichen Ursache deines Tinnitus kannst du lernen, die Geräusche wieder völlig aus deiner Wahrnehmung auszublenden. Um ein Türschloss zu öffnen, musst du auch nicht wissen, wie das Schloss gebaut ist − du brauchst lediglich den Schlüssel.
- Bei Ohrgeräuschen liegt keine Durchblutungsstörung des Ohres vor. Das hat man lange angenommen. Die Blutgefäße verlaufen jedoch nur am äußeren Rand der Hörschnecke, inder die Nervenzellen liegen. Verliefen die Blutgefäße in direkter Nachbarschaft zum Hörnerv, hörten wir ständig unser Blut strömen.
- Es heißt, Ohrgeräusche, die seit mehr als drei Monaten bestehen, sind chronisch. Wie so oft in der Forschung scheiden sich hier jedoch die Geister: Manche sprechen von sechs Monaten, andere berichten von Fällen, bei denen sich der Tinnitus sogar nach fünf bis zehn Jahren plötzlich wieder verabschiedet hat. Aber keine Panik: Auch einen chronischen Tinnitus kann man komplett überhören lernen!
- Ohrgeräusche sind nie der Grund für eine Schwerhörigkeit. Eine schleichende Hörminderung ist jedoch eine häufige Ursache für das Auftreten von Ohrgeräuschen, da die Geräusche sich genau auf die Frequenzen setzen, die jetzt fehlen.
- Tinnitus und Hörsturz sind nicht dasselbe. Zwar tritt bei ca. 50 Prozent der Menschen mit ein- oder mehrmaligem Hörsturz ein Tinnitus als Folge auf, doch Tinnitus und Hörsturz können völlig unabhängig voneinander auftreten. Die mit einem Hörsturz verbundene Hörminderung setzt plötzlich ein und zumeist nur auf einem Ohr. Durch ärztliche Behandlung kommt es bei Hörsturz in ca. 90 Prozent aller Fälle wieder zur vollständigen Erholung des Hörvermögens.
- Ohrgeräusche werden nicht von allein oder mit der Zeit als immer lauter, sondern mit zunehmender Gewöhnung als immer leiser erlebt.
- Ohrgeräusche können schwanken, werden aber nicht lauter als 2 bis maximal 15 Dezibel über der individuellen Hörschwelle, wie Studien belegen. Es gibt jedoch bestimmte Verstärker wie große Müdigkeit, ein angespanntes und empfindliches Nervenkostüm oder eine sehr stille Umgebung (z. B. das Schlafzimmer), die den Tinnitus in unserer Wahrnehmung laut erscheinen lassen können.
Du siehst, es besteht bei einem plötzlich auftretenden Tinnitus kein Grund zur Panik.
Tinnitus ist ein Symptom, keine Krankheit. Das Ohrgeräusch zeigt an, dass auf der körperlichen oder seelischen Ebene etwas aus der Balance geraten ist. In unserem Top-Thema Tinnitus lesen Sie mehr zu möglichen Ursachen und Behandlungsmethoden.
Autorin
Annette Nowak lebt in München und arbeitet seit mehr als 20 Jahren in ihrer Beratungspraxis, die spezialisiert auf Tinnitus ist. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Integrative Gestalttherapeutin, Systemische Paartherapeutin und hat sich 1997 in Tinnitus-Retraining-Therapie ausbilden lassen. Sie war eine der Ersten in Bayern, die ein ambulantes, breitgefächertes Angebot spezialisiert auf die Bewältigung von Tinnitus anbieten konnte. Tinnitus kennt sie aus eigenem leidvollem Erleben. Ihre Ohrgeräusche sind heute jedoch für ihr Lebensgefühl völlig bedeutungslos geworden.
Selbsthilfeprogramm für innere Ruhe. Das Buch "Tinnitus loslassen" von Annette Nowak bringt die bahnbrechenden Erkenntnisse der Hirnforschung verständlich auf den Punkt und zeigt, wie Sie diese ganz praktisch in Ihren Alltag integrieren.