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Die Ganzkörperkältetherapie zeigt starke Effekte auf Schmerzen und systemische Entzündungen.
Sebastian Kneipp und Vincenz Prießnitz – ihre Namen stehen für eine Bewegung, die im 19. Jahrhundert die therapeutische Kraft des kalten Wassers popularisierte. Gerade Kneipp war es, der die Methode aus eigener, dramatischer Erfahrung heraus entwickelte: Als junger Mann soll er sich selbst von einer schweren Lungentuberkulose durch kurze Bäder in der eiskalten Donau geheilt haben. Was damals unter Begriffen wie „Abhärtung“ oder „Lebenswecker“ firmierte, oft mit einem Hauch Esoterik umgeben, rückt heute in den Fokus der modernen Stoffwechselmedizin. Fakt ist: Kälte ist kein unspezifisches Wundermittel. Vielmehr ist sie ein präzise definierbarer physiologischer Stimulus. Die Wiederentdeckung des metabolisch aktiven braunen Fettgewebes (BAT) beim Erwachsenen im Jahr 2009 [1] [2] lieferte den entscheidenden Link, um die teils jahrhundertealten Beobachtungen der Naturheilkunde mechanistisch zu verstehen.
Für die naturheilkundliche Praxis ist diese Entwicklung eine Bestätigung und Chance zugleich. Kältetherapie nutzt eine natürliche Ressource, ist kostengünstig und fördert die Selbstwirksamkeit der Patienten. Doch der Erfolg hängt von einer sorgfältigen Indikationsstellung, einer realistischen Risikoabschätzung und einer hohen Compliance ab. Es geht eben nicht um heroische Eisbäder, sondern um die richtige „Kälte-Dosis“.
Auf einen Blick
Die Kältetherapie, historisch in der Naturheilkunde durch Persönlichkeiten wie Sebastian Kneipp verankert, erfährt durch die Wiederentdeckung des braunen Fettgewebes (BAT) bei Erwachsenen eine wissenschaftliche Neubewertung. Viele Patienten profitieren von den systemischen Effekten der Kälte, doch die zugrunde liegenden Mechanismen und optimalen Anwendungsprotokolle sind oft unklar. Dieser Artikel schlägt die Brücke von der traditionellen Hydrotherapie zur modernen Stoffwechselmedizin und beleuchtet die Rolle von BAT als thermogenes und endokrines Organ. Es werden die vielfältigen Effekte auf die kardiometabolische Gesundheit – von der verbesserten Insulinsensitivität bis hin zu günstigeren Lipidprofilen – ebenso diskutiert wie die große individuelle Heterogenität, die durch Genetik, Epigenetik und unterschiedliche Stoffwechseltypen bedingt ist. Ein praxisorientierter Vergleich verschiedener Kältemodalitäten und eine kritische Auseinandersetzung mit Sicherheitsaspekten und Kontraindikationen runden die Übersicht ab und bieten einen fundierten Fahrplan für die Integration dieser potenten naturheilkundlichen Methode in die ärztliche Praxis.
Der biologische Ofen und seine Botenstoffe
Was genau passiert, wenn Kälte auf den Körper trifft? Die Antwort liegt in einem hochspezialisierten Gewebe, das lange als Relikt aus der Säuglingszeit galt. Im Gegensatz zum weißen Fettgewebe, unserem eher passiven Energiespeicher, ist braunes Fettgewebe (BAT) ein aktiver Energieverbraucher. Seine Zellen sind vollgepackt mit Mitochondrien, die ihm seine charakteristische Farbe verleihen. In der inneren Membran dieser zellulären Kraftwerke sitzt der entscheidende Akteur: das Entkopplungsprotein 1 (UCP1). Wird das sympathische Nervensystem (SNS) durch einen Kältereiz aktiviert, schickt es Noradrenalin als Botenstoff los. Dieses Hormon dockt an β-adrenerge Rezeptoren der braunen Fettzellen an und startet eine Kaskade, an deren Ende UCP1 aktiviert wird. Man kann sich UCP1 wie einen biochemischen Kurzschluss vorstellen: Es entkoppelt die Atmungskette von der ATP-Produktion. Die bei der Verbrennung von Fettsäuren und Glukose freiwerdende Energie wird direkt als Wärme freigesetzt. Diesen Prozess nennt man zitterfreie Thermogenese (NST).
Interessanterweise existiert beim Erwachsenen neben dem „klassischen“ BAT vor allem beiges Fett. Diese Zellen entstehen durch einen Prozess namens „Browning“ innerhalb weißer Fettdepots und können bei Bedarf ebenfalls UCP1 exprimieren. Für die Praxis bedeutet das: Die Menge an thermogenem Fett ist nicht statisch, sondern kann durch wiederholte Kältereize trainiert und vermehrt werden [3]. Jüngste Forschungen zeigen zudem, dass die Wärmeproduktion nicht allein von UCP1 abhängt. Alternative Wege wie der Kreatin-Zyklus oder das SERCA-vermittelte Ca²+-Cycling tragen ebenfalls zur Thermogenese bei, insbesondere im beigen Fett und im Muskel [4]. Dies könnte erklären, warum auch Personen mit wenig BAT von Kälte profitieren.
Als primären Brennstoff nutzt BAT Fettsäuren, die es direkt aus dem Blut oder aus eigenen Speichern mobilisiert. Glukose dient weniger der direkten Verbrennung, sondern eher dem Wiederauffüllen der internen Speicher und der Aufrechterhaltung des Stoffwechsels. Doch BAT ist mehr als nur ein biologischer Ofen. Es ist ein endokrines Organ, das eine Vielzahl von Botenstoffen, sogenannte Batokine, freisetzt [5]. Diese wirken systemisch und sind für viele der gesundheitlichen Effekte verantwortlich. Wichtige Vertreter sind zum Beispiel 12,13-diHOME, ein Lipidmediator, der die Fettsäureaufnahme im Muskel fördert, oder der Fibroblast Growth Factor 21 (FGF21), der die Glukose- und Lipidhomöostase verbessert. Auch Neuregulin 4 (Nrg4) gehört dazu; es schützt die Leber vor Verfettung und wirkt antiatherogen.
Epidemiologie und Heterogenität des BAT
Die Menge und Aktivität von BAT ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Große retrospektive Analysen von PET-CT-Scans geben hierzu Aufschluss, auch wenn sie das Gewebe nur im aktivierten Zustand sichtbar machen. In einer Münchner Auswertung von über 2800 Scans fand sich spontan aktives BAT nur bei knapp 5 % der Patienten. Dabei zeigte sich: Jüngere Menschen und Frauen haben deutlich häufiger nachweisbar aktives BAT. So waren Frauen mehr als doppelt so häufig BAT-positiv wie Männer (7,1 % vs. 3,1 %) [6]. Nicht überraschend ist ein höherer Body-Mass-Index mit weniger BAT-Aktivität assoziiert, auch wenn man Alter und Geschlecht berücksichtigt. Die Menge an aktivem BAT ist im Vergleich zum weißen Fettgewebe jedoch eher marginal: In den aktivsten Scans wurden mittlere Volumina von über 300 ml gemessen – jedoch mehr als die lange angenommenen 50–100 Gramm.
Auch die Außentemperatur spielt eine wesentliche Rolle, ebenso wie die Genetik. Ein faszinierendes Beispiel für evolutionäre Anpassung findet sich bei den Inuit in Grönland. Genomweite Analysen haben gezeigt, dass bei ihnen Genvarianten, insbesondere im Bereich des Gens TBX15, stark selektiert wurden. Dieses Gen ist an der Entwicklung von braunem und beigem Fett beteiligt. Diese genetische Anpassung hat den Inuit wahrscheinlich geholfen, über Jahrtausende in extremer Kälte zu überleben, indem sie eine effizientere Wärmeproduktion ermöglichte.
Doch die Heterogenität geht noch tiefer und beginnt womöglich schon vor unserer Geburt. Neueste Daten deuten auf eine epigenetische Programmierung hin: Menschen, die in den kalten Monaten gezeugt wurden, weisen als Erwachsene eine höhere BAT-Aktivität und einen höheren Energieverbrauch auf [7]. Diese Heterogenität ist klinisch relevant und spiegelt sich auch in unterschiedlichen Stoffwechseltypen wider. Eigene Forschungsarbeiten konnten zeigen, dass es einen „sparsamen“ (thrifty) und einen „verschwenderischen“ (spendthrift) Phänotyp gibt. Sparsame Individuen fahren ihren Energieverbrauch bei Nahrungsmangel stärker herunter, neigen aber auch eher zur Gewichtszunahme. Interessanterweise ist genau dieser sparsame Phänotyp mit einer geringeren kälteinduzierten BAT-Aktivität assoziiert [8]. Das bedeutet: Nicht jeder Patient wird gleich gut auf Kältereize ansprechen. Eine personalisierte Herangehensweise ist daher unerlässlich.
Modalitäten der Kältetherapie – ein Praxisvergleich
Kälte ist nicht gleich Kälte. Die Methode bestimmt die Wirkung (Tab. 1). Am bekanntesten ist wohl die Kaltwasserimmersion (CWI). Das Eintauchen in kaltes Wasser ist aufgrund der hohen Wärmeleitfähigkeit von Wasser ein äußerst potenter Reiz, der dem Körper schnell und großflächig Wärme entzieht. Technisch aufwendiger ist die Ganzkörperkältetherapie (WBC) in einer Kältekammer bei bis zu –110 ℃. Hier nutzt man trockene Kälte, der Wärmeverlust erfolgt langsamer. Die wohl alltagstauglichste Methode ist die kalte Dusche. Der Reiz ist weniger intensiv, aber bei regelmäßiger Anwendung ebenfalls wirksam. Schließlich gibt es noch die lokale Kälte, z. B. durch Eispacks oder typische Kneipp-Güsse.
Was ist nun besser? Die Antwort hängt vom Therapieziel ab. Geht es rein um den thermischen Reiz, ist Wasser physikalisch im Vorteil: Es leitet Wärme etwa 25-mal effizienter vom Körper ab als Luft. Das bedeutet, CWI erzeugt einen sehr starken Kältereiz bei vergleichsweise moderaten Temperaturen. Interessanterweise können aber beide Methoden (CWI und WBC) das entscheidende Startsignal für die BAT-Aktivierung liefern: ein starker Anstieg des Noradrenalinspiegels. Das ist der primäre Botenstoff, der den biologischen Ofen anwirft [9]. CWI scheint dabei eine stärkere periphere Abkühlung zu bewirken und könnte daher für die muskuläre Regeneration überlegen sein [10]. WBC wird hingegen oft als angenehmer empfunden und zeigt starke Effekte auf Schmerz und systemische Entzündung.
Entscheidend für die biologische Wirkung ist die sogenannte Kältedosis. Sie ist ein Produkt aus vier Faktoren: der Temperatur, der Dauer, der Art des Kontakts – sprich: nass oder trocken – und der Größe der exponierten Körperfläche. Ein einfaches Beispiel verdeutlicht das: Vier Minuten in einer Kältekammer bei –110 ℃ trockener Luft können einen ähnlichen thermischen Reiz auslösen wie zwei Minuten in 10 ℃ kaltem Wasser. Der Grund liegt in der Physik: Wasser entzieht dem Körper die Wärme rund 25-mal effektiver als Luft. Eine kurze, nasse und den ganzen Körper umschließende Anwendung wie die CWI kann daher einen ebenso starken oder sogar stärkeren Reiz setzen als ein längerer Aufenthalt in extrem trockener Kälte.
Klinische Effekte: Was ist robust belegt?
Im Bereich der metabolischen Gesundheit sind die Daten ziemlich überzeugend. Kälteexposition steigert den Energieverbrauch [11], und regelmäßige Anwendung über Wochen kann zu einer moderaten Reduktion der Körperfettmasse führen [3]. Kälte ist jedoch keine alleinige Diät-Strategie, sondern eher ein Adjuvans. Einer der am besten belegten Effekte ist die Verbesserung der Glukosehomöostase. Eine 10-tägige Kälteakklimatisierung bei 14–15 ℃ verbesserte die Insulinsensitivität bei Typ-2-Diabetikern um über 40 % [12]. Auch die Lipidprofile scheinen zu profitieren: Kältetherapie senkt die Triglyzeride und erhöht tendenziell das protektive HDL-Cholesterin. Aktives BAT agiert hier wie ein „metabolischer Staubsauger“ für Glukose und Fette.
Bei den kardiovaskulären Effekten ist das Bild komplexer, als man zunächst annehmen könnte. Akut führt Kälte zwar zu einer schützenden Vasokonstriktion und einem Anstieg des Blutdrucks, was bei vorbelasteten Patienten Vorsicht erfordert. Doch hinter dieser akuten Reaktion verbergen sich potente, langfristig schützende Mechanismen. Tierexperimentelle Studien zeigen eindrücklich, dass chronisch aktiviertes BAT die Blutfettwerte senkt und die Entwicklung von Atherosklerose bremst, indem es atherogene Lipide aus dem Blut entfernt und der Plaquebildung so den Nährboden entzieht. Was im Tiermodell funktioniert, scheint auch für den Menschen zu gelten. Eine riesige retrospektive Studie mit über 50 000 Patienten offenbarte, dass Personen mit nachweisbarem braunem Fett signifikant seltener an koronarer Herzkrankheit, Schlaganfall oder Herzinsuffizienz litten [13].
Tab. 1 Möglichkeiten der Kälteexposition
Merkmal | Kaltwasserimmersion (CWI) | Ganzkörperkältetherapie (WBC) | kalte Dusche |
Temperatur | 5–15 ℃ | –85 bis –140 ℃ | 10–20 ℃ |
Dauer | 2–15 min | 2–4 min | 1–5 min |
Frequenz | 2–4 ×/Woche | täglich (in Serien) | täglich |
Zielsetzung | Regeneration, BAT-Aktivierung, Stress | Schmerz, Entzündung, Stimmung | Abhärtung, Stimmung, Einstieg |
Spannend wird es bei den neuroimmunologischen Effekten: Kälte wirkt wie ein „Reset“ für das Nervensystem. Die massive Freisetzung von Noradrenalin und Dopamin führt zu verbesserter Stimmung, Wachheit und Stressresilienz. Metaanalysen zeigen eine signifikante Stressreduktion 12 Stunden nach CWI [14]. WBC wird sogar als Add-on-Therapie bei Depressionen untersucht. Die Entzündungsmodulation ist dabei biphasisch. Akut kann Kälte Entzündungsmarker kurz ansteigen lassen (ein sogenannter hormetischer Reiz), chronisch wirkt sie jedoch antiinflammatorisch.
Optimale Kälteprotokolle – wo stehen wir?
Die Frage nach dem „besten“ Protokoll ist noch nicht abschließend geklärt. Die Evidenz deutet jedoch auf einige Prinzipien hin. Erstens: Konsistenz schlägt Intensität. Regelmäßige moderate Reize sind wahrscheinlich nachhaltiger als seltene extreme Expositionen. Zweitens: Individualisierung. Die optimale Dosis hängt von der Konstitution und dem Therapielog ab. Und drittens: Adhärenz ist der Schlüssel. Das alltagstauglichste Protokoll ist oft das beste. Hier punkten kalte Duschen und moderate CWI gegenüber der teuren und aufwendigen WBC.
Pharmakologische Parallelen und Adjuvanzien
Die Kaskade der BAT-Aktivierung lässt sich auch medikamentös nachahmen, was die zugrunde liegenden Mechanismen verdeutlicht. So aktivieren β3-Agonisten wie Mirabegron die gleichen Rezeptoren wie Noradrenalin. Studien am Menschen zeigten eine signifikante BAT-Aktivierung, aber auch kardiovaskuläre Nebenwirkungen [15]. FGF21-Analoga ahmen die Wirkung des gleichnamigen Batokins nach. Und auch natürliche Agonisten wie Capsaicin aus Chili können über andere Wege das SNS aktivieren und moderate thermogene Effekte auslösen, auch wenn die Humanevidenz hier noch vorläufig ist [16]. In jüngster Zeit rücken zudem die neuen GLP-1-Rezeptoragonisten (sogenannte Abnehmspritzen) in den Fokus. Präklinische Daten deuten darauf hin, dass sie das „Browning“ von weißem Fett fördern könnten. Ob dieser Mechanismus jedoch maßgeblich zu den beeindruckenden Effekten auf das Körpergewicht beim Menschen beiträgt, ist derzeit noch unklar und Gegenstand intensiver Forschung. Diese Ansätze sind keine Alternative zur Kältetherapie, könnten aber in Zukunft eine Rolle spielen.
Beispiel-Protokolle
Einsteiger-Protokoll (Fokus: Abhärtung und Stimmung):
- Sicherheitscheck: absolute Kontraindikationen (s. Kasten) ausschließen
- Woche 1–2: nach der warmen Dusche für 30 Sekunden Beine und Arme kalt abduschen
- Woche 3–4: Duschdauer auf 60–90 Sekunden steigern und den Oberkörper einbeziehen
- Ziel: tägliche kalte Dusche für 2–3 Minuten
Fortgeschrittenen-Protokoll (Fokus: Metabolismus & Regeneration):
- Sicherheitscheck: insbesondere kardiovaskuläre Risiken abklären
- Methode: Kaltwasserimmersion (Badewanne, Regentonne)
- Einstieg: 1–2 × pro Woche für 2–3 Minuten bei 15 ℃
- Progression: langsam die Dauer auf 5–10 Minuten steigern oder die Temperatur auf unter 12 ℃ senken
- Wichtig: langsam eintauchen, Atmung kontrollieren, nie allein durchführen!
Offene Fragen und Forschungsbedarf
Trotz der enormen Fortschritte bleiben viele Fragen offen. Tatsächlich betreten wir hier in vielerlei Hinsicht Neuland. Eine der größten Hürden für die klinische Praxis ist die Diagnostik. Wie können wir die Menge und – viel wichtiger – die Aktivität des BAT einfach und kostengünstig im Praxisalltag messen, jenseits teurer PET-CT-Scans? Und warum haben manche Menschen von Natur aus mehr davon als andere? Vielleicht liegt der größte Schatz des BAT aber gar nicht nur in seiner Heizfunktion, sondern in seinem Wirken als endokrine Drüse. Die Identifikation neuer Batokine und die Entschlüsselung ihrer genauen Wirkung auf das Immunsystem, das Gehirn oder die Gefäßwände stehen erst am Anfang.
Spannend wird es auch jenseits von UCP1. Welchen Beitrag leisten alternative thermogene Mechanismen wie der Kreatin-Zyklus im Muskel wirklich zur Gesamtwärmebildung beim Menschen? Könnten diese Wege eines Tages sogar eigene therapeutische Ziele darstellen? Gleichzeitig läuft die Suche nach pharmakologischen Aktivatoren oder „Nutrazeutika“ auf Hochtouren. Doch die Balance zwischen Wirksamkeit und Sicherheit ist heikel, wie die kardialen Nebenwirkungen von β3-Agonisten zeigen. Und schließlich die Implementierung: Wir benötigen dringend große, randomisierte Langzeitstudien, die nicht nur CWI gegen WBC testen, sondern auch die optimale Dosis-Wirkungs-Beziehung für spezifische Indikationen klären. Zudem müssen unerwünschte Ereignisse systematisch erfasst werden, um Risikogruppen noch besser zu identifizieren und die Sicherheit für alle Anwender zu maximieren.
Sicherheit und Kontraindikationen
Kältetherapie ist eine potente Intervention und nicht für jeden geeignet. Eine sorgfältige Anamnese ist daher Pflicht.
Absolute Kontraindikationen (intensive Kälteanwendungen wie CWI/WBC):
- kardiovaskulär: bekannte KHK, Herzinsuffizienz (NYHA III/IV), schwere/unkontrollierte Hypertonie, signifikante Herzklappenfehler, Z. n. Herzinfarkt (< 6 Monate), thromboembolische Erkrankungen
- vaskulär: schweres Raynaud-Syndrom, Kryoglobulinämie, Kälteurtikaria
- neurologisch: Anfallsleiden
- allgemein: akute fieberhafte Infekte, Schwangerschaft
Relative Vorsicht ist geboten bei:
- Kindern und im hohen Alter
- unkontrollierte Hypothyreose
- Einnahme von kreislaufregulierenden Medikamenten
Besonderes Risiko bei CWI – der „autonome Konflikt“: Die gleichzeitige Aktivierung von Sympathikus (Kälteschock) und Parasympathikus (Tauchreflex) kann bei vulnerablen Personen Herzrhythmusstörungen auslösen. Daher gilt: langsam eintauchen, Atmung beruhigen und die Anwendung niemals allein durchführen!
Fazit für die Praxis
Was bedeutet das nun für die Sprechstunde? Kältetherapie entfaltet ihr volles Potenzial im Verbund mit anderen Lebensstilmaßnahmen. Die Kombination mit Bewegung, Ernährung und Schlaf ist synergistisch. Je nach Patiententyp kann der Fokus unterschiedlich gesetzt werden: Beim metabolischen Typ mit Prädiabetes steht die Verbesserung der Insulinsensitivität im Vordergrund. Beim mentalen Typ, der über Stress oder depressive Verstimmung klagt, der akute „Reset“-Effekt zur Stimmungsaufhellung. Und beim muskuloskelettalen Typ mit chronischen Schmerzen die antiinflammatorischen Effekte. Entscheidend ist die Aufklärung über realistische Erwartungen, die Notwendigkeit der Regelmäßigkeit und die Sicherheitsaspekte. Kältetherapie ist kein Allheilmittel, aber ein wertvolles komplementärmedizinisches Werkzeug, das Patienten befähigt, aktiv an ihrer Gesundheit mitzuwirken.
Autor
PD Dr. med. Tim Hollstein
ist Facharzt für Innere Medizin, Endokrinologie und Diabetologie und leitet als Oberarzt das Ernährungsteam am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel. Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt auf der Erforschung unterschiedlicher Stoffwechseltypen („sparsam“ vs. „verschwenderisch“) und deren Zusammenhang mit braunem Fettgewebe, Adipositas und kardiometabolischen Erkrankungen. Seine DFG-geförderte Arbeitsgruppe entwickelt praxistaugliche Tests zur Personalisierung der Stoffwechseltherapie. Neben seiner klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit engagiert er sich in der Wissenschaftskommunikation, u. a. als Medizinjournalist und in Science Slams.
Interessenkonflikt: Der Autor hat Vortragshonorare erhalten von Amgen, AstraZeneca, Daiichi Sankyo, das Trainingsmoment, DAG, DDG, DGFL, Eli Lilly, MSD, Novartis, Novo Nordisk, Sanofi, Science & Stories GmbH, Techniker Krankenkasse. Er ist Mitglied der Advisory Boards von Daiichi Sankyo, Eli Lilly, sobi.
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